Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Thätigkeit des Gehirns.
zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist
irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise,
Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken,
die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun.
Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen
kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche
und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale
muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar
durch Abhaltung aller Ton- und Lichteindrücke genügt werden, --
das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch
im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab-
lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum
eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten
soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung
seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch
hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem
psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren,
eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut.
Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst
ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode
und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener-
gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke
fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen
gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch
den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte
Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke
genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be-
nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn
wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch
angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die
Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf
es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen
Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie
ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser
(im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon.

Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund-
sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er-
wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber-
zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte
Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho-

Thätigkeit des Gehirns.
zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist
irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise,
Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken,
die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun.
Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen
kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche
und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale
muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar
durch Abhaltung aller Ton- und Lichteindrücke genügt werden, —
das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch
im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab-
lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum
eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten
soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung
seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch
hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem
psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren,
eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut.
Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst
ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode
und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener-
gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke
fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen
gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch
den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte
Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke
genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be-
nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn
wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch
angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die
Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf
es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen
Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie
ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser
(im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon.

Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund-
sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er-
wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber-
zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte
Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0361" n="347"/><fw place="top" type="header">Thätigkeit des Gehirns.</fw><lb/>
zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist<lb/>
irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise,<lb/>
Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken,<lb/>
die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun.<lb/>
Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen<lb/>
kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche<lb/>
und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale<lb/>
muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar<lb/>
durch Abhaltung aller Ton- und Lichteindrücke genügt werden, &#x2014;<lb/>
das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch<lb/>
im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab-<lb/>
lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum<lb/>
eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten<lb/>
soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung<lb/>
seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch<lb/>
hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem<lb/>
psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren,<lb/>
eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut.<lb/>
Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst<lb/>
ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode<lb/>
und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener-<lb/>
gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke<lb/>
fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen<lb/>
gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch<lb/>
den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte<lb/>
Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke<lb/>
genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be-<lb/>
nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn<lb/>
wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch<lb/>
angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die<lb/>
Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf<lb/>
es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen<lb/>
Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie<lb/>
ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser<lb/>
(im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon.</p><lb/>
              <p>Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund-<lb/>
sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er-<lb/>
wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber-<lb/>
zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte<lb/>
Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0361] Thätigkeit des Gehirns. zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise, Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken, die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun. Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar durch Abhaltung aller Ton- und Lichteindrücke genügt werden, — das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab- lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren, eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut. Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener- gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be- nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser (im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon. Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund- sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er- wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber- zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/361
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/361>, abgerufen am 22.11.2024.