Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.Vortheile der Versetzung nen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mitUeberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus- culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner- vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be- handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier- auf aufmerksam gemacht. §. 164. Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn- Dagegen ist nun die Versetzung in Verhältnisse, die speciell Vortheile der Versetzung nen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mitUeberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus- culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner- vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be- handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier- auf aufmerksam gemacht. §. 164. Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn- Dagegen ist nun die Versetzung in Verhältnisse, die speciell <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0362" n="348"/><fw place="top" type="header">Vortheile der Versetzung</fw><lb/> nen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mit<lb/> Ueberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus-<lb/> culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner-<lb/> vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be-<lb/> handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier-<lb/> auf aufmerksam gemacht.</p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 164.</head><lb/> <p>Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten<lb/> Indicationen (§. 163. §. 162.) meist nur durch eine radicale Umän-<lb/> derung aller Aussenverhältnisse, <choice><sic>dnrch</sic><corr>durch</corr></choice> gänzliche Entfernung des<lb/> Kranken von seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung zu<lb/> völlig andersartigen und neuen Eindrücken entsprochen werden kann.</p><lb/> <p>Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn-<lb/> orts, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Um-<lb/> gebungen. Grössere Reisen, in den mässigeren Zuständen von Hy-<lb/> pochondrie oft von grossem Nutzen, aber immer nur bei Wenigen<lb/> anwendbar, sind bei allem ausgebrochenem tieferem Irresein durch-<lb/> aus unzulässig. Sie vermehren gewöhnlich die Aufregung; es sind<lb/> uns die bedenklichsten Verlegenheiten und die gefährlichsten Auftritte<lb/> bekannt, welche der Ausbruch der Manie auf solchen „Vergnügungsreisen“<lb/> zur Folge hatte, und mit Recht hat man auch an den alten Ausspruch<lb/> erinnert, dass durch Flucht und Ortswechsel der Mensch doch sich<lb/> selbst, den inneren Gründen seiner Gefühlsbelästigung, kaum entrinne. —</p><lb/> <p>Dagegen ist nun die <hi rendition="#g">Versetzung</hi> in Verhältnisse, die speciell<lb/> für die Verpflegung solcher Kranken eingerichtet sind, <hi rendition="#g">in eine<lb/> gute Irrenanstalt</hi>, die in der grossen Mehrzahl der Fälle am<lb/> dringendsten indicirte Massregel. Sie dient vor Allem zum<lb/> Schutze des Kranken. Denn nirgends in den gewöhnlichen Lebens-<lb/> verhältnissen ist dieser vor Zudringlichkeit, vor einer auch beim<lb/> besten Willen meistens höchst unzweckmässigen Einwirkung seiner<lb/> Umgebungen geschützt, nirgends findet er jene Schonung, welche<lb/> aus einer klaren Einsicht in seinen Zustand hervorgeht; der immer<lb/> zunehmenden Verstimmung setzen die Angehörigen des Kranken, als<lb/> ob sich ihr dieser noch freiwillig entziehen könnte, meistens allerlei<lb/> Zureden, gewöhnlichen Trost oder sogenannte Vernunftgründe entgegen,<lb/> wenn sein Zustand nicht gar für Verstellung gehalten und mit derber<lb/> Zurechtweisung gestraft wird; Niemand unter den Gesunden versteht<lb/> den Kranken, Nachgiebigkeit und Strenge werden am unrechten Platze<lb/> angewandt, das Misstrauen wächst unter solcher Behandlung, und es<lb/> kommt zu unangenehmen Scenen und Kämpfen, welche nicht nur den<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [348/0362]
Vortheile der Versetzung
nen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mit
Ueberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus-
culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner-
vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be-
handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier-
auf aufmerksam gemacht.
§. 164.
Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten
Indicationen (§. 163. §. 162.) meist nur durch eine radicale Umän-
derung aller Aussenverhältnisse, durch gänzliche Entfernung des
Kranken von seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung zu
völlig andersartigen und neuen Eindrücken entsprochen werden kann.
Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn-
orts, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Um-
gebungen. Grössere Reisen, in den mässigeren Zuständen von Hy-
pochondrie oft von grossem Nutzen, aber immer nur bei Wenigen
anwendbar, sind bei allem ausgebrochenem tieferem Irresein durch-
aus unzulässig. Sie vermehren gewöhnlich die Aufregung; es sind
uns die bedenklichsten Verlegenheiten und die gefährlichsten Auftritte
bekannt, welche der Ausbruch der Manie auf solchen „Vergnügungsreisen“
zur Folge hatte, und mit Recht hat man auch an den alten Ausspruch
erinnert, dass durch Flucht und Ortswechsel der Mensch doch sich
selbst, den inneren Gründen seiner Gefühlsbelästigung, kaum entrinne. —
Dagegen ist nun die Versetzung in Verhältnisse, die speciell
für die Verpflegung solcher Kranken eingerichtet sind, in eine
gute Irrenanstalt, die in der grossen Mehrzahl der Fälle am
dringendsten indicirte Massregel. Sie dient vor Allem zum
Schutze des Kranken. Denn nirgends in den gewöhnlichen Lebens-
verhältnissen ist dieser vor Zudringlichkeit, vor einer auch beim
besten Willen meistens höchst unzweckmässigen Einwirkung seiner
Umgebungen geschützt, nirgends findet er jene Schonung, welche
aus einer klaren Einsicht in seinen Zustand hervorgeht; der immer
zunehmenden Verstimmung setzen die Angehörigen des Kranken, als
ob sich ihr dieser noch freiwillig entziehen könnte, meistens allerlei
Zureden, gewöhnlichen Trost oder sogenannte Vernunftgründe entgegen,
wenn sein Zustand nicht gar für Verstellung gehalten und mit derber
Zurechtweisung gestraft wird; Niemand unter den Gesunden versteht
den Kranken, Nachgiebigkeit und Strenge werden am unrechten Platze
angewandt, das Misstrauen wächst unter solcher Behandlung, und es
kommt zu unangenehmen Scenen und Kämpfen, welche nicht nur den
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