Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.in die Irrenanstalt. da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürftehier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in- dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan- kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor- handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der Versetzung zu zögern. -- Indessen hängt die Indication zu der Mass- regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit, als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab; sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken in der Familie Alles das zu Theil werden kann, was sein Zustand fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt. Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an- Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel. in die Irrenanstalt. da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürftehier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in- dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan- kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor- handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der Versetzung zu zögern. — Indessen hängt die Indication zu der Mass- regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit, als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab; sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken in der Familie Alles das zu Theil werden kann, was sein Zustand fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt. Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an- Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0365" n="351"/><fw place="top" type="header">in die Irrenanstalt.</fw><lb/> da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürfte<lb/> hier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in-<lb/> dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die<lb/> Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan-<lb/> kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der<lb/> Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen<lb/> die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt<lb/> sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige<lb/> Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor-<lb/> handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit<lb/> oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der<lb/> Versetzung zu zögern. — Indessen hängt die Indication zu der Mass-<lb/> regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit,<lb/> als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab;<lb/> sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken<lb/> in der Familie <hi rendition="#g">Alles</hi> das zu Theil werden kann, was sein Zustand<lb/> fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die<lb/> nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt.</p><lb/> <p>Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an-<lb/> deren Irren nur noch tiefer leiden werde, zeugt von gänzlicher Unkenntniss der<lb/> Sache. In jeder wohlgeordneten Anstalt findet eine zweckmässige Scheidung der<lb/> Kranken statt, so dass der Einzelne immer nur mit Wenigen, zu seiner Gesell-<lb/> schaft Passenden, der frisch Erkrankte z. B. mit den Verkommenen und Versun-<lb/> kenen, deren Eindruck auf ihn allerdings ein sehr übler sein könnte, niemals<lb/> zusammentrifft. Die einzelnen Kranken, die unter sich in Berührung kommen,<lb/> verhalten sich auch beim besten Vernehmen doch ziemlich gleichgültig gegen<lb/> einander, indem Jeder fast nur mit sich selbst beschäftigt ist; Viele bemerken<lb/> das Irresein der Anderen und werden durch die gleiche Behandlung, die auch<lb/> ihnen selbst zu Theil wird, auf ihren eigenen Zustand aufmerksam. Von positiv<lb/> günstigstem Einflusse auf die neuen Kranken aber ist es, dass sie durch das<lb/> Beispiel ihrer Umgebung in die Ordnung und Bewegung der Anstalt von selbst<lb/> hineingeleitet werden, dass sie von den Anderen Unterwerfung unter das Ganze<lb/> lernen und aus den in ihrer Umgebung geschehenden Genesungen und Entlassun-<lb/> gen selbst Motive, sich zu beruhigen und wieder zu hoffen, schöpfen.</p><lb/> <p>Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [351/0365]
in die Irrenanstalt.
da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürfte
hier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in-
dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die
Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan-
kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der
Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen
die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt
sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige
Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor-
handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit
oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der
Versetzung zu zögern. — Indessen hängt die Indication zu der Mass-
regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit,
als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab;
sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken
in der Familie Alles das zu Theil werden kann, was sein Zustand
fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die
nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt.
Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an-
deren Irren nur noch tiefer leiden werde, zeugt von gänzlicher Unkenntniss der
Sache. In jeder wohlgeordneten Anstalt findet eine zweckmässige Scheidung der
Kranken statt, so dass der Einzelne immer nur mit Wenigen, zu seiner Gesell-
schaft Passenden, der frisch Erkrankte z. B. mit den Verkommenen und Versun-
kenen, deren Eindruck auf ihn allerdings ein sehr übler sein könnte, niemals
zusammentrifft. Die einzelnen Kranken, die unter sich in Berührung kommen,
verhalten sich auch beim besten Vernehmen doch ziemlich gleichgültig gegen
einander, indem Jeder fast nur mit sich selbst beschäftigt ist; Viele bemerken
das Irresein der Anderen und werden durch die gleiche Behandlung, die auch
ihnen selbst zu Theil wird, auf ihren eigenen Zustand aufmerksam. Von positiv
günstigstem Einflusse auf die neuen Kranken aber ist es, dass sie durch das
Beispiel ihrer Umgebung in die Ordnung und Bewegung der Anstalt von selbst
hineingeleitet werden, dass sie von den Anderen Unterwerfung unter das Ganze
lernen und aus den in ihrer Umgebung geschehenden Genesungen und Entlassun-
gen selbst Motive, sich zu beruhigen und wieder zu hoffen, schöpfen.
Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |