psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst zurechtzufinden.
Drittes Capitel. Psychische Behandlung.
§. 174.
Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre- bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen, Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin, und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh- nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier der mächtigste Hebel geistiger Genesung.
Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen, welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins, als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh- men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi- vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden; andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher- stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück- gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist, sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand- lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,
Psychische Therapie.
psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst zurechtzufinden.
Drittes Capitel. Psychische Behandlung.
§. 174.
Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre- bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen, Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin, und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh- nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier der mächtigste Hebel geistiger Genesung.
Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen, welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins, als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh- men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi- vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden; andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher- stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück- gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist, sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand- lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0377"n="363"/><fwplace="top"type="header">Psychische Therapie.</fw><lb/>
psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie<lb/>
den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst<lb/>
zurechtzufinden.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Drittes Capitel.</hi><lb/><hirendition="#i">Psychische Behandlung</hi>.</head><lb/><divn="4"><head>§. 174.</head><lb/><p>Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect<lb/>
stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu<lb/>
dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen<lb/>
durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre-<lb/>
bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile<lb/>
durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa<lb/>
mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen,<lb/>
Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative<lb/>
Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein<lb/>
solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier<lb/>
reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin,<lb/>
und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders<lb/>
wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter<lb/>
eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh-<lb/>
nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier<lb/>
der mächtigste Hebel geistiger Genesung.</p><lb/><p>Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der<lb/>
geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen,<lb/>
welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins,<lb/>
als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh-<lb/>
men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und<lb/>
Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi-<lb/>
vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden;<lb/>
andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher-<lb/>
stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im<lb/>
Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück-<lb/>
gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter<lb/>
dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist,<lb/>
sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand-<lb/>
lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und<lb/>
Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[363/0377]
Psychische Therapie.
psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie
den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst
zurechtzufinden.
Drittes Capitel.
Psychische Behandlung.
§. 174.
Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect
stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu
dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen
durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre-
bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile
durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa
mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen,
Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative
Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein
solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier
reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin,
und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders
wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter
eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh-
nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier
der mächtigste Hebel geistiger Genesung.
Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der
geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen,
welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins,
als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh-
men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und
Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi-
vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden;
andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher-
stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im
Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück-
gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter
dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist,
sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand-
lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und
Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/377>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.