Es hat kein langes besinnen gekostet, den ersten aufschuß meiner grammatik mit stumpf und stiel, wie man sagt, niederzumähen; ein zweites kraut, dichter und feiner, ist schnell nachgewachsen, blüten und rei- fende früchte läßt es vielleicht hoffen. Mit freuden gebe ich dem publicum dieses seiner aufmerksamkeit nunmehr würdiger gewordene werk, das ich mühsam gepflegt, unter sorgen und nöthen, wo mir die arbeit bald verleidet gewesen, bald (und nach Gottes güte öfter) mein trost geblieben ist, bis dahin vollbracht habe. Schädlich wurden ihm auch der gebotene drang unab- läßiger ausarbeitung, welcher mir nie gestattete vorher zu entwerfen, nachher zu beßern; dann eine unüber- windliche neigung meiner natur, immer lieber fort zu untersuchen, als das untersuchte darzustellen. Die er- giebigkeit des feldes ist noch von solcher art, daß es nie versagt und kein blatt der quellen wieder gelesen werden kann, das nicht durch weitere aussichten er- weckte, oder begangene fehler bereuen ließe; wenn nun eine reiche errungenschaft zu geringerem lobe gereicht, als vielseitig erwogene verwaltung und haushälterische benutzung einer an sich schmälern, so mag mich tadel treffen, daß ich nicht aus allen gefundenen sätzen den gewinnst, dessen sie fähig sind, zu ziehen verstanden habe, ja daß wichtige beleuchtungen zuweilen an unwirk- samer stelle stehen. Nicht alle meine behauptungen kön- nen stich halten, doch, indem man ihre schwäche ent- decken wird, andere wege sich sprengen, auf denen die wahrheit, das einzige ziel redlicher arbeiten und das einzige, was in die länge hinhält, wann an den namen derer, die sich darum beworben, wenig mehr gelegen seyn wird, endlich hereinbricht; was uns das schwerste war, darf der nachwelt kinderspiel, kaum der rede werth schei- nen, alsdann ergibt sie sich neuen lösungen, wovon wir noch keine ahnung hatten und kämpft mit hindernissen da, wo wir alles abgethan wähnten. So gewis ist es, daß jeder schärfer gespaltete stoff auf der einen seite erleichtert, auf der andern erschwert; mittel, gleich- sam handhaben, um seiner meister zu werden, sind vervielfacht und unmöglich kann er uns ganz ent- schlüpfen; dafür bleiben eine menge vorher mit aufge- griffener einzelnheiten jetzt unberührt und unerfaßt. Im großen ist die zu lösende aufgabe beträchtlich vorgeschritten, im kleinen unbefriedigender geworden.
VORREDE.
Es hat kein langes beſinnen gekoſtet, den erſten aufſchuß meiner grammatik mit ſtumpf und ſtiel, wie man ſagt, niederzumähen; ein zweites kraut, dichter und feiner, iſt ſchnell nachgewachſen, blüten und rei- fende früchte läßt es vielleicht hoffen. Mit freuden gebe ich dem publicum dieſes ſeiner aufmerkſamkeit nunmehr würdiger gewordene werk, das ich mühſam gepflegt, unter ſorgen und nöthen, wo mir die arbeit bald verleidet geweſen, bald (und nach Gottes güte öfter) mein troſt geblieben iſt, bis dahin vollbracht habe. Schädlich wurden ihm auch der gebotene drang unab- läßiger ausarbeitung, welcher mir nie geſtattete vorher zu entwerfen, nachher zu beßern; dann eine unüber- windliche neigung meiner natur, immer lieber fort zu unterſuchen, als das unterſuchte darzuſtellen. Die er- giebigkeit des feldes iſt noch von ſolcher art, daß es nie verſagt und kein blatt der quellen wieder geleſen werden kann, das nicht durch weitere ausſichten er- weckte, oder begangene fehler bereuen ließe; wenn nun eine reiche errungenſchaft zu geringerem lobe gereicht, als vielſeitig erwogene verwaltung und haushälteriſche benutzung einer an ſich ſchmälern, ſo mag mich tadel treffen, daß ich nicht aus allen gefundenen ſätzen den gewinnſt, deſſen ſie fähig ſind, zu ziehen verſtanden habe, ja daß wichtige beleuchtungen zuweilen an unwirk- ſamer ſtelle ſtehen. Nicht alle meine behauptungen kön- nen ſtich halten, doch, indem man ihre ſchwäche ent- decken wird, andere wege ſich ſprengen, auf denen die wahrheit, das einzige ziel redlicher arbeiten und das einzige, was in die länge hinhält, wann an den namen derer, die ſich darum beworben, wenig mehr gelegen ſeyn wird, endlich hereinbricht; was uns das ſchwerſte war, darf der nachwelt kinderſpiel, kaum der rede werth ſchei- nen, alsdann ergibt ſie ſich neuen löſungen, wovon wir noch keine ahnung hatten und kämpft mit hinderniſſen da, wo wir alles abgethan wähnten. So gewis iſt es, daß jeder ſchärfer geſpaltete ſtoff auf der einen ſeite erleichtert, auf der andern erſchwert; mittel, gleich- ſam handhaben, um ſeiner meiſter zu werden, ſind vervielfacht und unmöglich kann er uns ganz ent- ſchlüpfen; dafür bleiben eine menge vorher mit aufge- griffener einzelnheiten jetzt unberührt und unerfaßt. Im großen iſt die zu löſende aufgabe beträchtlich vorgeſchritten, im kleinen unbefriedigender geworden.
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[[V]/0011]
VORREDE.
Es hat kein langes beſinnen gekoſtet, den erſten
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man ſagt, niederzumähen; ein zweites kraut, dichter
und feiner, iſt ſchnell nachgewachſen, blüten und rei-
fende früchte läßt es vielleicht hoffen. Mit freuden
gebe ich dem publicum dieſes ſeiner aufmerkſamkeit
nunmehr würdiger gewordene werk, das ich mühſam
gepflegt, unter ſorgen und nöthen, wo mir die arbeit
bald verleidet geweſen, bald (und nach Gottes güte
öfter) mein troſt geblieben iſt, bis dahin vollbracht habe.
Schädlich wurden ihm auch der gebotene drang unab-
läßiger ausarbeitung, welcher mir nie geſtattete vorher
zu entwerfen, nachher zu beßern; dann eine unüber-
windliche neigung meiner natur, immer lieber fort zu
unterſuchen, als das unterſuchte darzuſtellen. Die er-
giebigkeit des feldes iſt noch von ſolcher art, daß es
nie verſagt und kein blatt der quellen wieder geleſen
werden kann, das nicht durch weitere ausſichten er-
weckte, oder begangene fehler bereuen ließe; wenn nun
eine reiche errungenſchaft zu geringerem lobe gereicht,
als vielſeitig erwogene verwaltung und haushälteriſche
benutzung einer an ſich ſchmälern, ſo mag mich tadel
treffen, daß ich nicht aus allen gefundenen ſätzen den
gewinnſt, deſſen ſie fähig ſind, zu ziehen verſtanden
habe, ja daß wichtige beleuchtungen zuweilen an unwirk-
ſamer ſtelle ſtehen. Nicht alle meine behauptungen kön-
nen ſtich halten, doch, indem man ihre ſchwäche ent-
decken wird, andere wege ſich ſprengen, auf denen die
wahrheit, das einzige ziel redlicher arbeiten und das
einzige, was in die länge hinhält, wann an den namen
derer, die ſich darum beworben, wenig mehr gelegen ſeyn
wird, endlich hereinbricht; was uns das ſchwerſte war,
darf der nachwelt kinderſpiel, kaum der rede werth ſchei-
nen, alsdann ergibt ſie ſich neuen löſungen, wovon wir
noch keine ahnung hatten und kämpft mit hinderniſſen
da, wo wir alles abgethan wähnten. So gewis iſt es,
daß jeder ſchärfer geſpaltete ſtoff auf der einen ſeite
erleichtert, auf der andern erſchwert; mittel, gleich-
ſam handhaben, um ſeiner meiſter zu werden, ſind
vervielfacht und unmöglich kann er uns ganz ent-
ſchlüpfen; dafür bleiben eine menge vorher mit aufge-
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Im großen iſt die zu löſende aufgabe beträchtlich
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/11>, abgerufen am 21.11.2024.
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