Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.Vorrede. Diesem sehr natürlichen gefühle nach kommt mir meinbuch, ungeachtet ich es beßer gerathen weiß, schlech- ter vor, als das erste mahl. Übeler weitschweifigkeit zeihen wird mich keiner, der nur die maßen über- schauen und der forschung unserer sprache so viel raum gönnen will, als andere nicht so nahe liegende theile der wißenschaft herkömmlich einnehmen; manches ein- zelne, das sich gerne geltend gemacht hätte, ist zurück- gewiesen worden; die untersuchung hat oft dadurch schwerfälliges ansehen, daß ich auf jeden gegenstand gerade zu, keinem im wege stehenden anstoß vorüber gehen wollte. Dieses verfahren hängt bei mir wenig- stens mit der unbefangenheit sehr zusammen. Allgemein- logischen begriffen bin ich in der grammatik feind; sie führen scheinbare strenge und geschloßenheit der be- stimmungen mit sich, hemmen aber die beobachtung, welche ich als die seele der sprachforschung betrachte. Wer nichts auf wahrnehmungen hält, die mit ihrer factischen gewisheit anfangs aller theorie spotten, wird dem unergründlichen sprachgeiste nie näher treten. Etwas anders ist, daß auch hier zwei verschiedene richtun- gen laufen, eine von oben herunter, eine von unten hinauf, beide von eigenthümlichen vortheilen begleitet. Wohl mögen lateinische und griech. grammatiker auf der höhe ihrer sprachbildung selbst die fähigkeit deutscher sprache, ähnliche feinheit und ründung in anspruch zu nehmen, bezweifeln. So wenig aber der erhabenere stand des lat. und griechischen für alle fälle der deut- schen grammatik ausreicht, in welcher noch einzelne saiten reiner und tiefer anschlagen; ebenso wird, nach A. W. Schlegels treffender bemerkung, die weit vollen- detere indische grammatik wiederum jenen zum cor- rectiv dienen. Der dialect, den uns die geschichte als den ältesten, unverdorbensten weist, muß zuletzt auch für die allgemeine darstellung aller verzweigungen des stamms die tiefste regel darbieten und dann bisher ent- deckte gesetze der späteren mundarten reformieren, ohne sie sämmtlich aufzuheben. Es scheint mir für unsere deutsche grammatik eher vortheilhaft als nachtheilig, daß in ihr damit angefangen worden ist, von unten herauf zu dienen. Desto reichlicher wird sie zu der gründlichen, keine einzelnheit gefährdenden aufstellung des großen ganzen beitragen, sollten auch manche ihrer vorläusigen regeln unter höherm gesichtspuncte verschwinden, d. h. anders gefaßt werden müßen. Vorrede. Dieſem ſehr natürlichen gefühle nach kommt mir meinbuch, ungeachtet ich es beßer gerathen weiß, ſchlech- ter vor, als das erſte mahl. Übeler weitſchweifigkeit zeihen wird mich keiner, der nur die maßen über- ſchauen und der forſchung unſerer ſprache ſo viel raum gönnen will, als andere nicht ſo nahe liegende theile der wißenſchaft herkömmlich einnehmen; manches ein- zelne, das ſich gerne geltend gemacht hätte, iſt zurück- gewieſen worden; die unterſuchung hat oft dadurch ſchwerfälliges anſehen, daß ich auf jeden gegenſtand gerade zu, keinem im wege ſtehenden anſtoß vorüber gehen wollte. Dieſes verfahren hängt bei mir wenig- ſtens mit der unbefangenheit ſehr zuſammen. Allgemein- logiſchen begriffen bin ich in der grammatik feind; ſie führen ſcheinbare ſtrenge und geſchloßenheit der be- ſtimmungen mit ſich, hemmen aber die beobachtung, welche ich als die ſeele der ſprachforſchung betrachte. Wer nichts auf wahrnehmungen hält, die mit ihrer factiſchen gewisheit anfangs aller theorie ſpotten, wird dem unergründlichen ſprachgeiſte nie näher treten. Etwas anders iſt, daß auch hier zwei verſchiedene richtun- gen laufen, eine von oben herunter, eine von unten hinauf, beide von eigenthümlichen vortheilen begleitet. Wohl mögen lateiniſche und griech. grammatiker auf der höhe ihrer ſprachbildung ſelbſt die fähigkeit deutſcher ſprache, ähnliche feinheit und ründung in anſpruch zu nehmen, bezweifeln. So wenig aber der erhabenere ſtand des lat. und griechiſchen für alle fälle der deut- ſchen grammatik ausreicht, in welcher noch einzelne ſaiten reiner und tiefer anſchlagen; ebenſo wird, nach A. W. Schlegels treffender bemerkung, die weit vollen- detere indiſche grammatik wiederum jenen zum cor- rectiv dienen. Der dialect, den uns die geſchichte als den älteſten, unverdorbenſten weiſt, muß zuletzt auch für die allgemeine darſtellung aller verzweigungen des ſtamms die tiefſte regel darbieten und dann bisher ent- deckte geſetze der ſpäteren mundarten reformieren, ohne ſie ſämmtlich aufzuheben. Es ſcheint mir für unſere deutſche grammatik eher vortheilhaft als nachtheilig, daß in ihr damit angefangen worden iſt, von unten herauf zu dienen. Deſto reichlicher wird ſie zu der gründlichen, keine einzelnheit gefährdenden aufſtellung des großen ganzen beitragen, ſollten auch manche ihrer vorläuſigen regeln unter höherm geſichtspuncte verſchwinden, d. h. anders gefaßt werden müßen. <TEI> <text> <front> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012" n="VI"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g"><hi rendition="#k">Vorrede</hi></hi>.</fw><lb/> Dieſem ſehr natürlichen gefühle nach kommt mir mein<lb/> buch, ungeachtet ich es beßer gerathen weiß, ſchlech-<lb/> ter vor, als das erſte mahl. 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Dieſem ſehr natürlichen gefühle nach kommt mir mein
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ſchauen und der forſchung unſerer ſprache ſo viel raum
gönnen will, als andere nicht ſo nahe liegende theile
der wißenſchaft herkömmlich einnehmen; manches ein-
zelne, das ſich gerne geltend gemacht hätte, iſt zurück-
gewieſen worden; die unterſuchung hat oft dadurch
ſchwerfälliges anſehen, daß ich auf jeden gegenſtand
gerade zu, keinem im wege ſtehenden anſtoß vorüber
gehen wollte. Dieſes verfahren hängt bei mir wenig-
ſtens mit der unbefangenheit ſehr zuſammen. Allgemein-
logiſchen begriffen bin ich in der grammatik feind; ſie
führen ſcheinbare ſtrenge und geſchloßenheit der be-
ſtimmungen mit ſich, hemmen aber die beobachtung,
welche ich als die ſeele der ſprachforſchung betrachte.
Wer nichts auf wahrnehmungen hält, die mit ihrer
factiſchen gewisheit anfangs aller theorie ſpotten, wird
dem unergründlichen ſprachgeiſte nie näher treten. Etwas
anders iſt, daß auch hier zwei verſchiedene richtun-
gen laufen, eine von oben herunter, eine von unten
hinauf, beide von eigenthümlichen vortheilen begleitet.
Wohl mögen lateiniſche und griech. grammatiker auf
der höhe ihrer ſprachbildung ſelbſt die fähigkeit deutſcher
ſprache, ähnliche feinheit und ründung in anſpruch zu
nehmen, bezweifeln. So wenig aber der erhabenere
ſtand des lat. und griechiſchen für alle fälle der deut-
ſchen grammatik ausreicht, in welcher noch einzelne
ſaiten reiner und tiefer anſchlagen; ebenſo wird, nach
A. W. Schlegels treffender bemerkung, die weit vollen-
detere indiſche grammatik wiederum jenen zum cor-
rectiv dienen. Der dialect, den uns die geſchichte als
den älteſten, unverdorbenſten weiſt, muß zuletzt auch
für die allgemeine darſtellung aller verzweigungen des
ſtamms die tiefſte regel darbieten und dann bisher ent-
deckte geſetze der ſpäteren mundarten reformieren, ohne
ſie ſämmtlich aufzuheben. Es ſcheint mir für unſere
deutſche grammatik eher vortheilhaft als nachtheilig,
daß in ihr damit angefangen worden iſt, von unten
herauf zu dienen. Deſto reichlicher wird ſie zu der
gründlichen, keine einzelnheit gefährdenden aufſtellung
des großen ganzen beitragen, ſollten auch manche
ihrer vorläuſigen regeln unter höherm geſichtspuncte
verſchwinden, d. h. anders gefaßt werden müßen.
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