kungen zu vindicieren gewagt habe) und der alliteration untergegangen. Keine sprache thut den rückschritt, es ist daher verkehrtheit oder eitles spiel, verschwundene und fremde versmaße, welchen die heutigen sprachver- hältnisse nicht gewachsen sind, neu einzuführen. Der gröbere nachläßige reim unserer besten neueren dich- ter weissagt selbst dieser form einen allmähligen tod. Mit welcher reinheit, fertigkeit und natur reimten die dichter des dreizehnten jahrhunderts!
Das einladende studium mittelhochdeutscher poesie führte mich zuerst auf grammatische untersuchungen; die übrigen älteren mundarten mit voller ausnahme der alt- nordischen, theilweiser der angelsächsischen, bieten we- nig dichterisches; eine ansehnliche maße mittelnieder- ländischer und altenglischer werke läßt sich jenen doch kaum vergleichen. Es kann darum nicht befremden, daß ich die mittel- und die von ihr unzertrennliche althochdeutsche grammatik umständlicher abgehandelt habe, als die der übrigen sprachen. Hätte ich mich ganz auf sie beschränken sollen? die hintereinander wieder- hohlte ausarbeitung ähnlicher und immer ungleicher sprachverhältnisse ermüdet unbeschreiblich und stumpst die schärfe einzelner gesichtspuncte, denen sich derje- nige hingeben kann welcher die erforschung eines ein- zigen, für ihn begrenzten dialects unternommen hat. Da ich aber einmahl davon ausgegangen war, das un- stillstehende, nach zeit und raum veränderliche element unserer sprache nachzuweisen, muste ich eine mundart wie die andere zulaßen, durfte selbst den blick nicht ganz von den urverwandten fremden sprachen abwen- den. Wo hätte ich auch die rechte scheidung gefunden? das goth. war als erste grundlage, ohne welches das althochd. unverständlich gewesen wäre, nicht zu umge- hen; das angelsächs. und altnord. boten anziehende er- läuterungen und hatte ich einmahl die ältere mundart verhandelt, so war keine ursache vorhanden, die spätere auszuschließen, eigenthümliche brauchbarkeit für das ganze hatte jede. Aber freilich müste ihnen allen wo nicht gleiche, doch größere ausführlichkeit widerfahren, wenn auch ihr reichthum an quellen und hülfsmitteln dem unserer hochdeutschen mundart des dreizehnten jahrhunderts nachsteht.
Studium und erkenntnis der mittelhochdeutschen dicht- kunst haben in der letzten zeit zwar gewonnen, lange nicht so um sich gegriffen, als man von der trefflichkeit ihrer
Vorrede.
kungen zu vindicieren gewagt habe) und der alliteration untergegangen. Keine ſprache thut den rückſchritt, es iſt daher verkehrtheit oder eitles ſpiel, verſchwundene und fremde versmaße, welchen die heutigen ſprachver- hältniſſe nicht gewachſen ſind, neu einzuführen. Der gröbere nachläßige reim unſerer beſten neueren dich- ter weiſſagt ſelbſt dieſer form einen allmähligen tod. Mit welcher reinheit, fertigkeit und natur reimten die dichter des dreizehnten jahrhunderts!
Das einladende ſtudium mittelhochdeutſcher poeſie führte mich zuerſt auf grammatiſche unterſuchungen; die übrigen älteren mundarten mit voller ausnahme der alt- nordiſchen, theilweiſer der angelſächſiſchen, bieten we- nig dichteriſches; eine anſehnliche maße mittelnieder- ländiſcher und altengliſcher werke läßt ſich jenen doch kaum vergleichen. Es kann darum nicht befremden, daß ich die mittel- und die von ihr unzertrennliche althochdeutſche grammatik umſtändlicher abgehandelt habe, als die der übrigen ſprachen. Hätte ich mich ganz auf ſie beſchränken ſollen? die hintereinander wieder- hohlte ausarbeitung ähnlicher und immer ungleicher ſprachverhältniſſe ermüdet unbeſchreiblich und ſtumpſt die ſchärfe einzelner geſichtspuncte, denen ſich derje- nige hingeben kann welcher die erforſchung eines ein- zigen, für ihn begrenzten dialects unternommen hat. Da ich aber einmahl davon ausgegangen war, das un- ſtillſtehende, nach zeit und raum veränderliche element unſerer ſprache nachzuweiſen, muſte ich eine mundart wie die andere zulaßen, durfte ſelbſt den blick nicht ganz von den urverwandten fremden ſprachen abwen- den. Wo hätte ich auch die rechte ſcheidung gefunden? das goth. war als erſte grundlage, ohne welches das althochd. unverſtändlich geweſen wäre, nicht zu umge- hen; das angelſächſ. und altnord. boten anziehende er- läuterungen und hatte ich einmahl die ältere mundart verhandelt, ſo war keine urſache vorhanden, die ſpätere auszuſchließen, eigenthümliche brauchbarkeit für das ganze hatte jede. Aber freilich müſte ihnen allen wo nicht gleiche, doch größere ausführlichkeit widerfahren, wenn auch ihr reichthum an quellen und hülfsmitteln dem unſerer hochdeutſchen mundart des dreizehnten jahrhunderts nachſteht.
Studium und erkenntnis der mittelhochdeutſchen dicht- kunſt haben in der letzten zeit zwar gewonnen, lange nicht ſo um ſich gegriffen, als man von der trefflichkeit ihrer
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[VIII/0014]
Vorrede.
kungen zu vindicieren gewagt habe) und der alliteration
untergegangen. Keine ſprache thut den rückſchritt, es
iſt daher verkehrtheit oder eitles ſpiel, verſchwundene
und fremde versmaße, welchen die heutigen ſprachver-
hältniſſe nicht gewachſen ſind, neu einzuführen. Der
gröbere nachläßige reim unſerer beſten neueren dich-
ter weiſſagt ſelbſt dieſer form einen allmähligen tod.
Mit welcher reinheit, fertigkeit und natur reimten die
dichter des dreizehnten jahrhunderts!
Das einladende ſtudium mittelhochdeutſcher poeſie
führte mich zuerſt auf grammatiſche unterſuchungen; die
übrigen älteren mundarten mit voller ausnahme der alt-
nordiſchen, theilweiſer der angelſächſiſchen, bieten we-
nig dichteriſches; eine anſehnliche maße mittelnieder-
ländiſcher und altengliſcher werke läßt ſich jenen doch
kaum vergleichen. Es kann darum nicht befremden,
daß ich die mittel- und die von ihr unzertrennliche
althochdeutſche grammatik umſtändlicher abgehandelt
habe, als die der übrigen ſprachen. Hätte ich mich ganz
auf ſie beſchränken ſollen? die hintereinander wieder-
hohlte ausarbeitung ähnlicher und immer ungleicher
ſprachverhältniſſe ermüdet unbeſchreiblich und ſtumpſt
die ſchärfe einzelner geſichtspuncte, denen ſich derje-
nige hingeben kann welcher die erforſchung eines ein-
zigen, für ihn begrenzten dialects unternommen hat.
Da ich aber einmahl davon ausgegangen war, das un-
ſtillſtehende, nach zeit und raum veränderliche element
unſerer ſprache nachzuweiſen, muſte ich eine mundart
wie die andere zulaßen, durfte ſelbſt den blick nicht
ganz von den urverwandten fremden ſprachen abwen-
den. Wo hätte ich auch die rechte ſcheidung gefunden?
das goth. war als erſte grundlage, ohne welches das
althochd. unverſtändlich geweſen wäre, nicht zu umge-
hen; das angelſächſ. und altnord. boten anziehende er-
läuterungen und hatte ich einmahl die ältere mundart
verhandelt, ſo war keine urſache vorhanden, die ſpätere
auszuſchließen, eigenthümliche brauchbarkeit für das
ganze hatte jede. Aber freilich müſte ihnen allen wo
nicht gleiche, doch größere ausführlichkeit widerfahren,
wenn auch ihr reichthum an quellen und hülfsmitteln
dem unſerer hochdeutſchen mundart des dreizehnten
jahrhunderts nachſteht.
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kunſt haben in der letzten zeit zwar gewonnen, lange nicht
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/14>, abgerufen am 21.11.2024.
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