Allgemeine regeln 1) die wortbildungslehre wird zu beweisen suchen, daß jede deutsche wurzel auf einen cons. schließt; scheinbare ausnahme hiervon machen ver- schiedene einsilbige auf vocal auslautende wörter, denen jedoch meiner ansicht nach überall cons. apocopen zum grunde liegen. Das nähere gehört nicht hierher; die mittelh. sprache, verglichen mit der alth. weist aber viele solcher apocopen deutlich vor, z. b. la st. laß, sla st. slaga (vestigium) und es ist klar, daß sie auf den wur- zelvocal einfluß äußern, d. h. ihn dehnen *), indem sie gleichsam in ihn geschmolzen werden. Hiermit im ein- klang lehrt das mittelh. vorläufig folgende practische re- geln: a) jeder wurzelhafte (und betont bleibende) kurze vocal wird gedehnt (lang) sobald er auslautet; es giebt kein da, bi, do, du, sondern nur da, bei, do, dau; be- lege bei den einzelnen dehnlauten. b) gleiches geschieht, wenn an den betonten vocal eine flexionsendung stößt, welches man auch so ausdrücken kann: wenn er eine silbe endigt **); wohlverstanden nach wahrhafter silben- theilung, nicht nach neuhochd. (die fälschlich ge-ben, na-me, bin-den schreibt, statt nam-e, bind-en); der fall ist selten und hat den nämlichen grund, da auch hier cons. syncopiert sind; beispiele: bei-e (apis) vei-ent inimicus) etc. öfters treten die beiden silben in eine zusammen und dann entspringt der unorg. diphth. ie, z. b. hier (heic) aus hei-er, nicht heier triphthongisch. c) in zusammensetzungen dieselbe erscheinung. z. b. ta-lanc, sei-frit, offenbar aus tage- lanc, sige-frit erwachsen. -- 2) aufgenommene fremde (lat. roman. und slav.) wörter pflegen ihre auslautenden vocale (das versteht sich schon nach 1. a.) aber auch ihre inlautenden, sobald einfache consonanz folgt, zu dehnen; es heißt: daveit, pareis, magdalena etc. In solchen wör- tern fühlte der Deutsche weder die natürliche wurzel noch betonung sondern gab alle ihre laute mechanisch treu, wie sie der buchstab überlieferte, wieder; auf je- der silbe wurde verweilt und ihr vocal, wenn er ein
*) Der jetzt noch kühn scheinende satz, daß alle gedehnten und doppelten vocale sich auf einfache vocale und unterdrückte oder einwirkende consonanten gründen, wird sich wohl bei fortgesetzten untersuchungen mehr bestätigen, vgl. oben s. 88. und unten bei der conj. die bem. über den ablaut.
**) Die umgedrehte regel vom lat. hiatus: voc. ante voc. brevis.
I. mittelhochdeutſche vocale.
Mittelhochdeutſche vocale.
Allgemeine regeln 1) die wortbildungslehre wird zu beweiſen ſuchen, daß jede deutſche wurzel auf einen conſ. ſchließt; ſcheinbare ausnahme hiervon machen ver- ſchiedene einſilbige auf vocal auslautende wörter, denen jedoch meiner anſicht nach überall conſ. apocopen zum grunde liegen. Das nähere gehört nicht hierher; die mittelh. ſprache, verglichen mit der alth. weiſt aber viele ſolcher apocopen deutlich vor, z. b. lâ ſt. lâƷ, ſlâ ſt. ſlaga (veſtigium) und es iſt klar, daß ſie auf den wur- zelvocal einfluß äußern, d. h. ihn dehnen *), indem ſie gleichſam in ihn geſchmolzen werden. Hiermit im ein- klang lehrt das mittelh. vorläufig folgende practiſche re- geln: a) jeder wurzelhafte (und betont bleibende) kurze vocal wird gedehnt (lang) ſobald er auslautet; es giebt kein da, bi, do, du, ſondern nur dâ, bî, dô, dû; be- lege bei den einzelnen dehnlauten. b) gleiches geſchieht, wenn an den betonten vocal eine flexionsendung ſtößt, welches man auch ſo ausdrücken kann: wenn er eine ſilbe endigt **); wohlverſtanden nach wahrhafter ſilben- theilung, nicht nach neuhochd. (die fälſchlich ge-ben, na-me, bin-den ſchreibt, ſtatt nam-e, bind-en); der fall iſt ſelten und hat den nämlichen grund, da auch hier conſ. ſyncopiert ſind; beiſpiele: bî-e (apis) vî-ent inimicus) etc. öfters treten die beiden ſilben in eine zuſammen und dann entſpringt der unorg. diphth. ie, z. b. hier (hîc) aus hî-er, nicht hîer triphthongiſch. c) in zuſammenſetzungen dieſelbe erſcheinung. z. b. tâ-lanc, ſî-frit, offenbar aus tage- lanc, ſige-frit erwachſen. — 2) aufgenommene fremde (lat. roman. und ſlav.) wörter pflegen ihre auslautenden vocale (das verſteht ſich ſchon nach 1. a.) aber auch ihre inlautenden, ſobald einfache conſonanz folgt, zu dehnen; es heißt: dâvît, pârîs, magdâlênâ etc. In ſolchen wör- tern fühlte der Deutſche weder die natürliche wurzel noch betonung ſondern gab alle ihre laute mechaniſch treu, wie ſie der buchſtab überlieferte, wieder; auf je- der ſilbe wurde verweilt und ihr vocal, wenn er ein
*) Der jetzt noch kühn ſcheinende ſatz, daß alle gedehnten und doppelten vocale ſich auf einfache vocale und unterdrückte oder einwirkende conſonanten gründen, wird ſich wohl bei fortgeſetzten unterſuchungen mehr beſtätigen, vgl. oben ſ. 88. und unten bei der conj. die bem. über den ablaut.
**) Die umgedrehte regel vom lat. hiatus: voc. ante voc. brevis.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0357"n="331"/><fwplace="top"type="header">I. <hirendition="#i">mittelhochdeutſche vocale.</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#i">Mittelhochdeutſche vocale.</hi></head><lb/><p>Allgemeine regeln 1) die wortbildungslehre wird zu<lb/>
beweiſen ſuchen, daß jede deutſche wurzel auf einen<lb/>
conſ. ſchließt; ſcheinbare ausnahme hiervon machen ver-<lb/>ſchiedene einſilbige auf vocal auslautende wörter, denen<lb/>
jedoch meiner anſicht nach überall conſ. apocopen zum<lb/>
grunde liegen. Das nähere gehört nicht hierher; die<lb/>
mittelh. ſprache, verglichen mit der alth. weiſt aber viele<lb/>ſolcher apocopen deutlich vor, z. b. lâ ſt. lâƷ, ſlâ ſt.<lb/>ſlaga (veſtigium) und es iſt klar, daß ſie auf den wur-<lb/>
zelvocal einfluß äußern, d. h. ihn dehnen <noteplace="foot"n="*)">Der jetzt noch kühn ſcheinende ſatz, daß <hirendition="#i">alle</hi> gedehnten und<lb/>
doppelten vocale ſich auf einfache vocale und unterdrückte<lb/>
oder einwirkende conſonanten gründen, wird ſich wohl bei<lb/>
fortgeſetzten unterſuchungen mehr beſtätigen, vgl. oben<lb/>ſ. 88. und unten bei der conj. die bem. über den ablaut.</note>, indem ſie<lb/>
gleichſam in ihn geſchmolzen werden. Hiermit im ein-<lb/>
klang lehrt das mittelh. vorläufig folgende practiſche re-<lb/>
geln: a) jeder wurzelhafte (und betont bleibende) kurze<lb/>
vocal wird gedehnt (lang) ſobald er auslautet; es giebt<lb/>
kein da, bi, do, du, ſondern nur dâ, bî, dô, dû; be-<lb/>
lege bei den einzelnen dehnlauten. b) gleiches geſchieht,<lb/>
wenn an den betonten vocal eine flexionsendung ſtößt,<lb/>
welches man auch ſo ausdrücken kann: wenn er eine<lb/>ſilbe endigt <noteplace="foot"n="**)">Die umgedrehte regel vom lat. hiatus: voc. ante voc.<lb/>
brevis.</note>; wohlverſtanden nach wahrhafter ſilben-<lb/>
theilung, nicht nach neuhochd. (die fälſchlich ge-ben,<lb/>
na-me, bin-den ſchreibt, ſtatt nam-e, bind-en); der fall<lb/>
iſt ſelten und hat den nämlichen grund, da auch hier conſ.<lb/>ſyncopiert ſind; beiſpiele: bî-e (apis) vî-ent inimicus) etc.<lb/>
öfters treten die beiden ſilben in eine zuſammen und dann<lb/>
entſpringt der unorg. diphth. ie, z. b. hier (hîc) aus hî-er,<lb/>
nicht hîer triphthongiſch. c) in zuſammenſetzungen dieſelbe<lb/>
erſcheinung. z. b. tâ-lanc, ſî-frit, offenbar aus tage-<lb/>
lanc, ſige-frit erwachſen. — 2) aufgenommene fremde<lb/>
(lat. roman. und ſlav.) wörter pflegen ihre auslautenden<lb/>
vocale (das verſteht ſich ſchon nach 1. a.) aber auch ihre<lb/>
inlautenden, ſobald einfache conſonanz folgt, zu dehnen;<lb/>
es heißt: dâvît, pârîs, magdâlênâ etc. In ſolchen wör-<lb/>
tern fühlte der Deutſche weder die natürliche wurzel<lb/>
noch betonung ſondern gab alle ihre laute mechaniſch<lb/>
treu, wie ſie der buchſtab überlieferte, wieder; auf je-<lb/>
der ſilbe wurde verweilt und ihr vocal, wenn er ein<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[331/0357]
I. mittelhochdeutſche vocale.
Mittelhochdeutſche vocale.
Allgemeine regeln 1) die wortbildungslehre wird zu
beweiſen ſuchen, daß jede deutſche wurzel auf einen
conſ. ſchließt; ſcheinbare ausnahme hiervon machen ver-
ſchiedene einſilbige auf vocal auslautende wörter, denen
jedoch meiner anſicht nach überall conſ. apocopen zum
grunde liegen. Das nähere gehört nicht hierher; die
mittelh. ſprache, verglichen mit der alth. weiſt aber viele
ſolcher apocopen deutlich vor, z. b. lâ ſt. lâƷ, ſlâ ſt.
ſlaga (veſtigium) und es iſt klar, daß ſie auf den wur-
zelvocal einfluß äußern, d. h. ihn dehnen *), indem ſie
gleichſam in ihn geſchmolzen werden. Hiermit im ein-
klang lehrt das mittelh. vorläufig folgende practiſche re-
geln: a) jeder wurzelhafte (und betont bleibende) kurze
vocal wird gedehnt (lang) ſobald er auslautet; es giebt
kein da, bi, do, du, ſondern nur dâ, bî, dô, dû; be-
lege bei den einzelnen dehnlauten. b) gleiches geſchieht,
wenn an den betonten vocal eine flexionsendung ſtößt,
welches man auch ſo ausdrücken kann: wenn er eine
ſilbe endigt **); wohlverſtanden nach wahrhafter ſilben-
theilung, nicht nach neuhochd. (die fälſchlich ge-ben,
na-me, bin-den ſchreibt, ſtatt nam-e, bind-en); der fall
iſt ſelten und hat den nämlichen grund, da auch hier conſ.
ſyncopiert ſind; beiſpiele: bî-e (apis) vî-ent inimicus) etc.
öfters treten die beiden ſilben in eine zuſammen und dann
entſpringt der unorg. diphth. ie, z. b. hier (hîc) aus hî-er,
nicht hîer triphthongiſch. c) in zuſammenſetzungen dieſelbe
erſcheinung. z. b. tâ-lanc, ſî-frit, offenbar aus tage-
lanc, ſige-frit erwachſen. — 2) aufgenommene fremde
(lat. roman. und ſlav.) wörter pflegen ihre auslautenden
vocale (das verſteht ſich ſchon nach 1. a.) aber auch ihre
inlautenden, ſobald einfache conſonanz folgt, zu dehnen;
es heißt: dâvît, pârîs, magdâlênâ etc. In ſolchen wör-
tern fühlte der Deutſche weder die natürliche wurzel
noch betonung ſondern gab alle ihre laute mechaniſch
treu, wie ſie der buchſtab überlieferte, wieder; auf je-
der ſilbe wurde verweilt und ihr vocal, wenn er ein
*) Der jetzt noch kühn ſcheinende ſatz, daß alle gedehnten und
doppelten vocale ſich auf einfache vocale und unterdrückte
oder einwirkende conſonanten gründen, wird ſich wohl bei
fortgeſetzten unterſuchungen mehr beſtätigen, vgl. oben
ſ. 88. und unten bei der conj. die bem. über den ablaut.
**) Die umgedrehte regel vom lat. hiatus: voc. ante voc.
brevis.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/357>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.