Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

I. mittelhochdeutsche vocale.
in den übrigen mittelh. wörtern auszusprechen; bei-
spiele daniel, sier (superbus) soldier, beschelier, avenier,
surßiere und so in allen infin. turnieren, vernogieren
(renegare) etc. gahevieß, seitieß *). Auslautend wird
das fremde (niemahls das deutsche) ie stets zu eie, d. h.
zweisilbig und klingreimend, vgl. obeie, turkeie, ameie,
cundreie, lareie, parmeneie etc. Aber auch in deutschen
wörtern scheidet sich ein zweisilbiges eie überall von un-
serm diphth. ie, beide reimen nicht aufeinander; vgl.
beie (apis) dreie (trias) sneie (ningor Georg 13b Tit. 2725.
3515. Wilh. 1, 23b; hiernach Wigal. 10978. sine und
Gudr. 3444. sne in sneie zu berichtigen, vreie (libera)
zweie (ramo) kleie (furfur) gleien (garrire) beien (apes)
schreient (clamant) veient (inimicus) u. a. m.

(IU), iu, seinem uriprunge nach mehrsach 1) das alte
organ. iu, außer dem praes. sg. ind. und imp. einer star-
ken conj. (biute, kiuse, schiuße, fliuhet, fliuget etc.)
nur in wenigen, ungefähr folgenden wörtern: geziuc
(apparatus) beziugen (probare testibus) smiuge (M. S.
2. 73a) niune (novem) fiur (ignis) tiure (pretiosus) ge-
hiure (mitis) siure (acarus, atomus) schiure (horreum)
stiuren (administrare) liut (populus) diuten, tiuten (ex-
planare) biuß (talitrum troj. 116b) endlich die auslaute
spriu (palea) und bei spätern dichtern zuweilen schon
getriu st. getriuwe. Von dem inlautenden iuw (spriuwer,
getriuwe, niuwe, bliuwen, riuwen, kiuwen, briuwen
etc.) unten beim w. In allen übrigen fällen des organ.
iu gilt ie (wie im alth. schon ia. io, ie) und zwar pro-
gressiv, indem einzelne formen, denen im alth. noch iu,
wenigstens io, verblieb, es auch in ie verdünnen, vgl.
knie, tier, fliege, liep, liebe, diep, lieht, alth. knio,
tior, fliuga, liop, liubei, lioht (neben fiur, tiure, die
auch im alth. beständig iu zeigen) sogar liegen (mentiri)
(s. die conjug.). Hat sich noch in einzelnen ableitun-
gen das alte iu forterhalten, namentlich in liuhten (lu-
cere) neben lieht, schiuhet (veretur) neben schiech; so
erscheinen auch diese fälle vermindert, und die alth. gi-
liuben (placere) firthiuben (clam auferre) lauten jetzo
gelieben, verdieben. 2) das unursprüngliche, aber schon
im alth. vorhandene durch zus. ziehung erzeugte iu
dauert fort in hiu (caecidi) iu (vobis) iuch (vos) hiute

*) Einige reime lehren auch ein inlautendes fremdes ei-e, na-
mentlich das bei Wolfram häufige vrei-ende: hende, ellende
etc. oder gringulieten: gebeten (Parc. 131b 133a 149a).

I. mittelhochdeutſche vocale.
in den übrigen mittelh. wörtern auszuſprechen; bei-
ſpiele dâniel, ſier (ſuperbus) ſoldier, bëſchelier, âvenier,
ſurƷiere und ſo in allen infin. turnieren, vernôgieren
(renegare) etc. gahevieƷ, ſeitieƷ *). Auslautend wird
das fremde (niemahls das deutſche) ie ſtets zu îe, d. h.
zweiſilbig und klingreimend, vgl. ôbîe, turkîe, amîe,
cundrîe, lârîe, parmenîe etc. Aber auch in deutſchen
wörtern ſcheidet ſich ein zweiſilbiges îe überall von un-
ſerm diphth. ie, beide reimen nicht aufeinander; vgl.
bîe (apis) drîe (trias) ſnîe (ningor Georg 13b Tit. 2725.
3515. Wilh. 1, 23b; hiernach Wigal. 10978. ſine und
Gudr. 3444. ſnê in ſnîe zu berichtigen, vrîe (libera)
zwîe (ramo) klîe (furfur) glîen (garrire) bîen (apes)
ſchrîent (clamant) vîent (inimicus) u. a. m.

(IU), iu, ſeinem uriprunge nach mehrſach 1) das alte
organ. iu, außer dem praeſ. ſg. ind. und imp. einer ſtar-
ken conj. (biute, kiuſe, ſchiuƷe, fliuhet, fliuget etc.)
nur in wenigen, ungefähr folgenden wörtern: geziuc
(apparatus) beziugen (probare teſtibus) ſmiuge (M. S.
2. 73a) niune (novem) fiur (ignis) tiure (pretioſus) ge-
hiure (mitis) ſiure (acarus, atomus) ſchiure (horreum)
ſtiuren (adminiſtrare) liut (populus) diuten, tiuten (ex-
planare) biuƷ (talitrum troj. 116b) endlich die auslaute
ſpriu (palea) und bei ſpätern dichtern zuweilen ſchon
getriu ſt. getriuwe. Von dem inlautenden iuw (ſpriuwer,
getriuwe, niuwe, bliuwen, riuwen, kiuwen, briuwen
etc.) unten beim w. In allen übrigen fällen des organ.
iu gilt ie (wie im alth. ſchon ia. io, ie) und zwar pro-
greſſiv, indem einzelne formen, denen im alth. noch iu,
wenigſtens io, verblieb, es auch in ie verdünnen, vgl.
knie, tier, fliege, liep, liebe, diep, lieht, alth. knio,
tior, fliuga, liop, liubî, lioht (neben fiur, tiure, die
auch im alth. beſtändig iu zeigen) ſogar liegen (mentiri)
(ſ. die conjug.). Hat ſich noch in einzelnen ableitun-
gen das alte iu forterhalten, namentlich in liuhten (lu-
cere) neben lieht, ſchiuhet (veretur) neben ſchiech; ſo
erſcheinen auch dieſe fälle vermindert, und die alth. gi-
liuben (placere) firthiuben (clam auferre) lauten jetzo
gelieben, verdieben. 2) das unurſprüngliche, aber ſchon
im alth. vorhandene durch zuſ. ziehung erzeugte iu
dauert fort in hiu (caecidi) iu (vobis) iuch (vos) hiute

*) Einige reime lehren auch ein inlautendes fremdes î-e, na-
mentlich das bei Wolfram häufige vrî-ende: hende, ellende
etc. oder gringuliëten: gebëten (Parc. 131b 133a 149a).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0378" n="352"/><fw place="top" type="header">I. <hi rendition="#i">mittelhochdeut&#x017F;che vocale.</hi></fw><lb/>
in den übrigen mittelh. wörtern auszu&#x017F;prechen; bei-<lb/>
&#x017F;piele dâniel, &#x017F;ier (&#x017F;uperbus) &#x017F;oldier, bë&#x017F;chelier, âvenier,<lb/>
&#x017F;ur&#x01B7;iere und &#x017F;o in allen infin. turnieren, vernôgieren<lb/>
(renegare) etc. gahevie&#x01B7;, &#x017F;eitie&#x01B7; <note place="foot" n="*)">Einige reime lehren auch ein inlautendes fremdes î-e, na-<lb/>
mentlich das bei Wolfram häufige vrî-ende: hende, ellende<lb/>
etc. oder gringuliëten: gebëten (Parc. 131<hi rendition="#sup">b</hi> 133<hi rendition="#sup">a</hi> 149<hi rendition="#sup">a</hi>).</note>. Auslautend wird<lb/>
das fremde (niemahls das deut&#x017F;che) <hi rendition="#i">ie</hi> &#x017F;tets zu <hi rendition="#i">îe</hi>, d. h.<lb/>
zwei&#x017F;ilbig und klingreimend, vgl. ôbîe, turkîe, amîe,<lb/>
cundrîe, lârîe, parmenîe etc. Aber auch in deut&#x017F;chen<lb/>
wörtern &#x017F;cheidet &#x017F;ich ein zwei&#x017F;ilbiges îe überall von un-<lb/>
&#x017F;erm diphth. <hi rendition="#i">ie</hi>, beide reimen nicht aufeinander; vgl.<lb/>
bîe (apis) drîe (trias) &#x017F;nîe (ningor Georg 13<hi rendition="#sup">b</hi> Tit. 2725.<lb/>
3515. Wilh. 1, 23<hi rendition="#sup">b</hi>; hiernach Wigal. 10978. <hi rendition="#i">&#x017F;ine</hi> und<lb/>
Gudr. 3444. &#x017F;nê in <hi rendition="#i">&#x017F;nîe</hi> zu berichtigen, vrîe (libera)<lb/>
zwîe (ramo) klîe (furfur) glîen (garrire) bîen (apes)<lb/>
&#x017F;chrîent (clamant) vîent (inimicus) u. a. m.</p><lb/>
            <p>(IU), iu, &#x017F;einem uriprunge nach mehr&#x017F;ach 1) das alte<lb/>
organ. <hi rendition="#i">iu</hi>, außer dem prae&#x017F;. &#x017F;g. ind. und imp. einer &#x017F;tar-<lb/>
ken conj. (biute, kiu&#x017F;e, &#x017F;chiu&#x01B7;e, fliuhet, fliuget etc.)<lb/>
nur in wenigen, ungefähr folgenden wörtern: geziuc<lb/>
(apparatus) beziugen (probare te&#x017F;tibus) &#x017F;miuge (M. S.<lb/>
2. 73<hi rendition="#sup">a</hi>) niune (novem) fiur (ignis) tiure (pretio&#x017F;us) ge-<lb/>
hiure (mitis) &#x017F;iure (acarus, atomus) &#x017F;chiure (horreum)<lb/>
&#x017F;tiuren (admini&#x017F;trare) liut (populus) diuten, tiuten (ex-<lb/>
planare) biu&#x01B7; (talitrum troj. 116<hi rendition="#sup">b</hi>) endlich die auslaute<lb/>
&#x017F;priu (palea) und bei &#x017F;pätern dichtern zuweilen &#x017F;chon<lb/>
getriu &#x017F;t. getriuwe. Von dem inlautenden <hi rendition="#i">iuw</hi> (&#x017F;priuwer,<lb/>
getriuwe, niuwe, bliuwen, riuwen, kiuwen, briuwen<lb/>
etc.) unten beim w. In allen übrigen fällen des organ.<lb/><hi rendition="#i">iu</hi> gilt <hi rendition="#i">ie</hi> (wie im alth. &#x017F;chon ia. io, ie) und zwar pro-<lb/>
gre&#x017F;&#x017F;iv, indem einzelne formen, denen im alth. noch <hi rendition="#i">iu</hi>,<lb/>
wenig&#x017F;tens io, verblieb, es auch in <hi rendition="#i">ie</hi> verdünnen, vgl.<lb/>
knie, tier, fliege, liep, liebe, diep, lieht, alth. knio,<lb/>
tior, fliuga, liop, liubî, lioht (neben fiur, tiure, die<lb/>
auch im alth. be&#x017F;tändig iu zeigen) &#x017F;ogar liegen (mentiri)<lb/>
(&#x017F;. die conjug.). Hat &#x017F;ich noch in einzelnen ableitun-<lb/>
gen das alte <hi rendition="#i">iu</hi> forterhalten, namentlich in liuhten (lu-<lb/>
cere) neben lieht, &#x017F;chiuhet (veretur) neben &#x017F;chiech; &#x017F;o<lb/>
er&#x017F;cheinen auch die&#x017F;e fälle vermindert, und die alth. gi-<lb/>
liuben (placere) firthiuben (clam auferre) lauten jetzo<lb/>
gelieben, verdieben. 2) das unur&#x017F;prüngliche, aber &#x017F;chon<lb/>
im alth. vorhandene durch zu&#x017F;. ziehung erzeugte <hi rendition="#i">iu</hi><lb/>
dauert fort in hiu (caecidi) iu (vobis) iuch (vos) hiute<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0378] I. mittelhochdeutſche vocale. in den übrigen mittelh. wörtern auszuſprechen; bei- ſpiele dâniel, ſier (ſuperbus) ſoldier, bëſchelier, âvenier, ſurƷiere und ſo in allen infin. turnieren, vernôgieren (renegare) etc. gahevieƷ, ſeitieƷ *). Auslautend wird das fremde (niemahls das deutſche) ie ſtets zu îe, d. h. zweiſilbig und klingreimend, vgl. ôbîe, turkîe, amîe, cundrîe, lârîe, parmenîe etc. Aber auch in deutſchen wörtern ſcheidet ſich ein zweiſilbiges îe überall von un- ſerm diphth. ie, beide reimen nicht aufeinander; vgl. bîe (apis) drîe (trias) ſnîe (ningor Georg 13b Tit. 2725. 3515. Wilh. 1, 23b; hiernach Wigal. 10978. ſine und Gudr. 3444. ſnê in ſnîe zu berichtigen, vrîe (libera) zwîe (ramo) klîe (furfur) glîen (garrire) bîen (apes) ſchrîent (clamant) vîent (inimicus) u. a. m. (IU), iu, ſeinem uriprunge nach mehrſach 1) das alte organ. iu, außer dem praeſ. ſg. ind. und imp. einer ſtar- ken conj. (biute, kiuſe, ſchiuƷe, fliuhet, fliuget etc.) nur in wenigen, ungefähr folgenden wörtern: geziuc (apparatus) beziugen (probare teſtibus) ſmiuge (M. S. 2. 73a) niune (novem) fiur (ignis) tiure (pretioſus) ge- hiure (mitis) ſiure (acarus, atomus) ſchiure (horreum) ſtiuren (adminiſtrare) liut (populus) diuten, tiuten (ex- planare) biuƷ (talitrum troj. 116b) endlich die auslaute ſpriu (palea) und bei ſpätern dichtern zuweilen ſchon getriu ſt. getriuwe. Von dem inlautenden iuw (ſpriuwer, getriuwe, niuwe, bliuwen, riuwen, kiuwen, briuwen etc.) unten beim w. In allen übrigen fällen des organ. iu gilt ie (wie im alth. ſchon ia. io, ie) und zwar pro- greſſiv, indem einzelne formen, denen im alth. noch iu, wenigſtens io, verblieb, es auch in ie verdünnen, vgl. knie, tier, fliege, liep, liebe, diep, lieht, alth. knio, tior, fliuga, liop, liubî, lioht (neben fiur, tiure, die auch im alth. beſtändig iu zeigen) ſogar liegen (mentiri) (ſ. die conjug.). Hat ſich noch in einzelnen ableitun- gen das alte iu forterhalten, namentlich in liuhten (lu- cere) neben lieht, ſchiuhet (veretur) neben ſchiech; ſo erſcheinen auch dieſe fälle vermindert, und die alth. gi- liuben (placere) firthiuben (clam auferre) lauten jetzo gelieben, verdieben. 2) das unurſprüngliche, aber ſchon im alth. vorhandene durch zuſ. ziehung erzeugte iu dauert fort in hiu (caecidi) iu (vobis) iuch (vos) hiute *) Einige reime lehren auch ein inlautendes fremdes î-e, na- mentlich das bei Wolfram häufige vrî-ende: hende, ellende etc. oder gringuliëten: gebëten (Parc. 131b 133a 149a).

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/378
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/378>, abgerufen am 22.11.2024.