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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
(hodie) hiure (hoc anno) friunt (amicus) zumahl in den
endungen des nom. sg. fem. und pl. neutr. diu, siu,
vieriu, reichiu etc. vgl. oben s. 108. 109. Der anlaut ju
darf mit iu nicht vermengt werden, in- und auslautend
findet kein ju mehr statt, sondern ist in iu verwandelt.
3) sehr häufig ist iu das umgelautete au *) vgl. hiufen
(acervare) iufen (erigere) riuhen (asperare) fiuhte (ma-
dor, alth. fauhtei) siule pl. von saul (columna) giule (Georg
36a) iule (noctua) griule (horror) kiule (clava) biule (ul-
cus) geliune (indoles) von laune; hiune (gigas) ziunen
(sepire) siure (acor) gemiure (murus) kiusche (castus) ge-
tiusche. gebiusche. geriusche. miuse (mures) riuse (nassas
meisterg. 31b) kriutel (herbula) triutel (amasia) biutel
(pera) hiute, briute pl. von haut, braut, braut; kriuße (crux)
riuße (ruthenus) **). -- So verschiednen ursprung diese
dreierlei iu haben, reimen sie gleichwohl untereinander,
floßen also in einer aussprache zusammen. Mit dem ü,
umlaut des kurzen u, werden sie oft in schreibung,
nicht aber in reim und aussprache vermischt; züge (tra-
heret) flüge (volaret) küre (eligeret) reimen nie auf
triuge (fallo) fliuge (volo) fiure (igni); ausnahme macht
der hin und wieder stehende reim friunde, friunden:
sünde, ünden, künden (M. S. 1, 52a Ernst 37b 39a mei-
sterg. 15b livl. chron. 115b) während sonst friunde: niun-
de (M. S. 2, 146b und Tit.). Die verkürzung fründe
scheint neigung zur niederd. mundart. -- In fremden
wörtern sollte iu (nämlich der umlaut des au) so wenig
stattfinden, als ae (s. oben bei diesem); indessen schwan-
ken dichter und wörter zwischen au oder iu vor der liq.
r. neben nataure, creataure findet sich aventiure, crea-
tiure, planiure, als könnte hier die endung e umlaut
zeugen. camahiu: driu (troj. 23b) scheint dem roman.

*) In einzelnen fällen ist auch hier au oder iu zweifelhaft, z. b.
in bauwen, getrauwen, saugen, erblaugen oder biuwen, ge-
triuwen, siugen, erbliugen? selbst im altnord. schwan-
ken sauga, siuga und das mittelh. blauc (verecundus) lau-
tet bliugr (oben s. 299).
**) Unorganisch und weder aus au durch umlaut, noch aus
einem alth. iu zu rechtsertigen ist urliuge (bellum) Maria 161.
M. S. 2, 72b, da die alth. form urlac (gl. jun. 182.) lautet,
angels. orläg, altn. orlög; alle diese sind nom. pl. neutr.
Als die alte bedeutung (satum) verdunkelte, verdarb all-
mählig die form und urliuge läßt sich nur begreifen, wenn
man mittelglieder wie urleuge, urlöige, urlaug, urlau,
urlaw, urlag voraussetzt.
Z

I. mittelhochdeutſche vocale.
(hodie) hiure (hoc anno) friunt (amicus) zumahl in den
endungen des nom. ſg. fem. und pl. neutr. diu, ſiu,
vieriu, rîchiu etc. vgl. oben ſ. 108. 109. Der anlaut ju
darf mit iu nicht vermengt werden, in- und auslautend
findet kein ju mehr ſtatt, ſondern iſt in iu verwandelt.
3) ſehr häufig iſt iu das umgelautete û *) vgl. hiufen
(acervare) iufen (erigere) riuhen (aſperare) fiuhte (ma-
dor, alth. fûhtî) ſiule pl. von ſûl (columna) giule (Georg
36a) iule (noctua) griule (horror) kiule (clava) biule (ul-
cus) geliune (indoles) von lûne; hiune (gigas) ziunen
(ſepire) ſiure (acor) gemiure (murus) kiuſche (caſtus) ge-
tiuſche. gebiuſche. geriuſche. miuſe (mures) riuſe (naſſas
meiſterg. 31b) kriutel (herbula) triutel (amaſia) biutel
(pera) hiute, briute pl. von hût, brût, brût; kriuƷe (crux)
riuƷe (ruthenus) **). — So verſchiednen urſprung dieſe
dreierlei iu haben, reimen ſie gleichwohl untereinander,
floßen alſo in einer ausſprache zuſammen. Mit dem ü,
umlaut des kurzen u, werden ſie oft in ſchreibung,
nicht aber in reim und ausſprache vermiſcht; züge (tra-
heret) flüge (volaret) küre (eligeret) reimen nie auf
triuge (fallo) fliuge (volo) fiure (igni); ausnahme macht
der hin und wieder ſtehende reim friunde, friunden:
ſünde, ünden, künden (M. S. 1, 52a Ernſt 37b 39a mei-
ſterg. 15b livl. chron. 115b) während ſonſt friunde: niun-
de (M. S. 2, 146b und Tit.). Die verkürzung fründe
ſcheint neigung zur niederd. mundart. — In fremden
wörtern ſollte iu (nämlich der umlaut des û) ſo wenig
ſtattfinden, als æ (ſ. oben bei dieſem); indeſſen ſchwan-
ken dichter und wörter zwiſchen û oder iu vor der liq.
r. neben nâtûre, creatûre findet ſich âventiure, crea-
tiure, plâniure, als könnte hier die endung e umlaut
zeugen. câmahiu: driu (troj. 23b) ſcheint dem roman.

*) In einzelnen fällen iſt auch hier û oder iu zweifelhaft, z. b.
in bûwen, getrûwen, ſûgen, erblûgen oder biuwen, ge-
triuwen, ſiugen, erbliugen? ſelbſt im altnord. ſchwan-
ken ſûga, ſiúga und das mittelh. blûc (verecundus) lau-
tet bliugr (oben ſ. 299).
**) Unorganiſch und weder aus û durch umlaut, noch aus
einem alth. iu zu rechtſertigen iſt urliuge (bellum) Maria 161.
M. S. 2, 72b, da die alth. form urlac (gl. jun. 182.) lautet,
angelſ. orläg, altn. orlög; alle dieſe ſind nom. pl. neutr.
Als die alte bedeutung (ſatum) verdunkelte, verdarb all-
mählig die form und urliuge läßt ſich nur begreifen, wenn
man mittelglieder wie urleuge, urlöige, urlaug, urlau,
urlaw, urlag vorausſetzt.
Z
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[353/0379] I. mittelhochdeutſche vocale. (hodie) hiure (hoc anno) friunt (amicus) zumahl in den endungen des nom. ſg. fem. und pl. neutr. diu, ſiu, vieriu, rîchiu etc. vgl. oben ſ. 108. 109. Der anlaut ju darf mit iu nicht vermengt werden, in- und auslautend findet kein ju mehr ſtatt, ſondern iſt in iu verwandelt. 3) ſehr häufig iſt iu das umgelautete û *) vgl. hiufen (acervare) iufen (erigere) riuhen (aſperare) fiuhte (ma- dor, alth. fûhtî) ſiule pl. von ſûl (columna) giule (Georg 36a) iule (noctua) griule (horror) kiule (clava) biule (ul- cus) geliune (indoles) von lûne; hiune (gigas) ziunen (ſepire) ſiure (acor) gemiure (murus) kiuſche (caſtus) ge- tiuſche. gebiuſche. geriuſche. miuſe (mures) riuſe (naſſas meiſterg. 31b) kriutel (herbula) triutel (amaſia) biutel (pera) hiute, briute pl. von hût, brût, brût; kriuƷe (crux) riuƷe (ruthenus) **). — So verſchiednen urſprung dieſe dreierlei iu haben, reimen ſie gleichwohl untereinander, floßen alſo in einer ausſprache zuſammen. Mit dem ü, umlaut des kurzen u, werden ſie oft in ſchreibung, nicht aber in reim und ausſprache vermiſcht; züge (tra- heret) flüge (volaret) küre (eligeret) reimen nie auf triuge (fallo) fliuge (volo) fiure (igni); ausnahme macht der hin und wieder ſtehende reim friunde, friunden: ſünde, ünden, künden (M. S. 1, 52a Ernſt 37b 39a mei- ſterg. 15b livl. chron. 115b) während ſonſt friunde: niun- de (M. S. 2, 146b und Tit.). Die verkürzung fründe ſcheint neigung zur niederd. mundart. — In fremden wörtern ſollte iu (nämlich der umlaut des û) ſo wenig ſtattfinden, als æ (ſ. oben bei dieſem); indeſſen ſchwan- ken dichter und wörter zwiſchen û oder iu vor der liq. r. neben nâtûre, creatûre findet ſich âventiure, crea- tiure, plâniure, als könnte hier die endung e umlaut zeugen. câmahiu: driu (troj. 23b) ſcheint dem roman. *) In einzelnen fällen iſt auch hier û oder iu zweifelhaft, z. b. in bûwen, getrûwen, ſûgen, erblûgen oder biuwen, ge- triuwen, ſiugen, erbliugen? ſelbſt im altnord. ſchwan- ken ſûga, ſiúga und das mittelh. blûc (verecundus) lau- tet bliugr (oben ſ. 299). **) Unorganiſch und weder aus û durch umlaut, noch aus einem alth. iu zu rechtſertigen iſt urliuge (bellum) Maria 161. M. S. 2, 72b, da die alth. form urlac (gl. jun. 182.) lautet, angelſ. orläg, altn. orlög; alle dieſe ſind nom. pl. neutr. Als die alte bedeutung (ſatum) verdunkelte, verdarb all- mählig die form und urliuge läßt ſich nur begreifen, wenn man mittelglieder wie urleuge, urlöige, urlaug, urlau, urlaw, urlag vorausſetzt. Z

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/379>, abgerufen am 22.11.2024.