die wurzeln aus-, haus- bleiben grammatisch völlig ver- schiedene. Ebenso beurtheile ich das goth. ogan (terrere) ags. broga, alth. pruoko (terror), wir durfen beide for- men nicht mischen, da wir das anlautende br- nicht mehr verstehen. Den versuch einige anlautende sl-, sm-, sn-, fl- fr- zu zerlegen wage ich im dritten cap. bei der composition mit vorpartikeln; sollte er auch ge- lingen, so deuten solche wörter auf eine frühere, der niedersetzung deutscher sprache vorausgegangene zeit und wir haben z. b. meltan und smeltan als zweierlei gram- matische wurzeln anzuerkennen. Ossenkundige, geschicht- lich nachweisliche entstellung oder zusammensetzung in neuern dialecten und gar volksmundarten wird hier nicht gemeint, z. b. das nhd. barmherzig, gnade, glied, blei- ben, zackern (sulcare) neben (juxta) entspringen aus und sind zu zerlegen in armherzig, ge-lit, ge-nade, be- leiben, zi-ahharen, en-eben. Aber jenen dunkleren er- scheinungen mag wohl ähnliches unterliegen.
Zu solchen spuren älterer sprachformation leiten uns noch deutlicher gewisse verhältnisse des ablautes (cap. I. schlußb. 5.) und der ableitung (cap. II.); sie durfen weder verkannt, noch als den historischen organismus der spra- che aufhebend angesehen werden. Sie sind gleichsam vororganisch.
Ich habe auch in den vorigen büchern einzelne buchstaben- und flexionseinrichtungen über die zeit un- serer denkmähler und quellen hinaus gemuthmaßt. Auf diesen vororganismus beziehe ich ferner folgende wahr- nehmung: der neuste stand unserer mundarten entblößt eine menge von wurzeln, d. h. er stellt sie uns dar ohne flexions- und ableitungszeichen. Je höher wir aufsteigen, desto häu- figer erscheinen die wurzeln bedeckt. Die goth. sprache zeigt nakte wurzel beim subst. nur im acc. und voc. sg. erster und vierter männl. und vierter weibl., dann im nom. acc. voc. erster neutraler decl.; beim adj. nur zuweilen im acc. voc. neutr. erster decl.; beim verbum nur im II. sg. imp. (analog dem voc.) und I. III. sg. praet. ind. starker con- jugation; nie in allen den vielen übrigen fällen, wo z. b. im nhd. und neuengl. flexion und ableitung weggeworfen werden. Da nun ein goth. vaurdata f. vaurd, fiskana f. fisk, haihaitam f. haihait etc. 1, 808. 1043. vermuthet wurden, im lat. und griech. auch noch weniger baare
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III. wortbildung. einleitung.
die wurzeln áus-, háus- bleiben grammatiſch völlig ver- ſchiedene. Ebenſo beurtheile ich das goth. ôgan (terrere) agſ. brôga, alth. pruoko (terror), wir durfen beide for- men nicht miſchen, da wir das anlautende br- nicht mehr verſtehen. Den verſuch einige anlautende ſl-, ſm-, ſn-, fl- fr- zu zerlegen wage ich im dritten cap. bei der compoſition mit vorpartikeln; ſollte er auch ge- lingen, ſo deuten ſolche wörter auf eine frühere, der niederſetzung deutſcher ſprache vorausgegangene zeit und wir haben z. b. meltan und ſmëltan als zweierlei gram- matiſche wurzeln anzuerkennen. Oſſenkundige, geſchicht- lich nachweiſliche entſtellung oder zuſammenſetzung in neuern dialecten und gar volksmundarten wird hier nicht gemeint, z. b. das nhd. barmherzig, gnâde, glied, blei- ben, zackern (ſulcare) nêben (juxta) entſpringen aus und ſind zu zerlegen in armherzig, ge-lit, ge-nâde, be- lîben, zi-ahharen, en-ëben. Aber jenen dunkleren er- ſcheinungen mag wohl ähnliches unterliegen.
Zu ſolchen ſpuren älterer ſprachformation leiten uns noch deutlicher gewiſſe verhältniſſe des ablautes (cap. I. ſchlußb. 5.) und der ableitung (cap. II.); ſie durfen weder verkannt, noch als den hiſtoriſchen organiſmus der ſpra- che aufhebend angeſehen werden. Sie ſind gleichſam vororganiſch.
Ich habe auch in den vorigen büchern einzelne buchſtaben- und flexionseinrichtungen über die zeit un- ſerer denkmähler und quellen hinaus gemuthmaßt. Auf dieſen vororganiſmus beziehe ich ferner folgende wahr- nehmung: der neuſte ſtand unſerer mundarten entblößt eine menge von wurzeln, d. h. er ſtellt ſie uns dar ohne flexions- und ableitungszeichen. Je höher wir aufſteigen, deſto häu- figer erſcheinen die wurzeln bedeckt. Die goth. ſprache zeigt nakte wurzel beim ſubſt. nur im acc. und voc. ſg. erſter und vierter männl. und vierter weibl., dann im nom. acc. voc. erſter neutraler decl.; beim adj. nur zuweilen im acc. voc. neutr. erſter decl.; beim verbum nur im II. ſg. imp. (analog dem voc.) und I. III. ſg. praet. ind. ſtarker con- jugation; nie in allen den vielen übrigen fällen, wo z. b. im nhd. und neuengl. flexion und ableitung weggeworfen werden. Da nun ein goth. vaúrdata f. vaúrd, fiſkana f. fiſk, háiháitam f. háihait etc. 1, 808. 1043. vermuthet wurden, im lat. und griech. auch noch weniger baare
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die wurzeln áus-, háus- bleiben grammatiſch völlig ver-
ſchiedene. Ebenſo beurtheile ich das goth. ôgan (terrere)
agſ. brôga, alth. pruoko (terror), wir durfen beide for-
men nicht miſchen, da wir das anlautende br- nicht
mehr verſtehen. Den verſuch einige anlautende ſl-,
ſm-, ſn-, fl- fr- zu zerlegen wage ich im dritten cap.
bei der compoſition mit vorpartikeln; ſollte er auch ge-
lingen, ſo deuten ſolche wörter auf eine frühere, der
niederſetzung deutſcher ſprache vorausgegangene zeit und
wir haben z. b. meltan und ſmëltan als zweierlei gram-
matiſche wurzeln anzuerkennen. Oſſenkundige, geſchicht-
lich nachweiſliche entſtellung oder zuſammenſetzung in
neuern dialecten und gar volksmundarten wird hier nicht
gemeint, z. b. das nhd. barmherzig, gnâde, glied, blei-
ben, zackern (ſulcare) nêben (juxta) entſpringen aus und
ſind zu zerlegen in armherzig, ge-lit, ge-nâde, be-
lîben, zi-ahharen, en-ëben. Aber jenen dunkleren er-
ſcheinungen mag wohl ähnliches unterliegen.
Zu ſolchen ſpuren älterer ſprachformation leiten uns
noch deutlicher gewiſſe verhältniſſe des ablautes (cap. I.
ſchlußb. 5.) und der ableitung (cap. II.); ſie durfen weder
verkannt, noch als den hiſtoriſchen organiſmus der ſpra-
che aufhebend angeſehen werden. Sie ſind gleichſam
vororganiſch.
Ich habe auch in den vorigen büchern einzelne
buchſtaben- und flexionseinrichtungen über die zeit un-
ſerer denkmähler und quellen hinaus gemuthmaßt. Auf
dieſen vororganiſmus beziehe ich ferner folgende wahr-
nehmung: der neuſte ſtand unſerer mundarten entblößt eine
menge von wurzeln, d. h. er ſtellt ſie uns dar ohne flexions-
und ableitungszeichen. Je höher wir aufſteigen, deſto häu-
figer erſcheinen die wurzeln bedeckt. Die goth. ſprache
zeigt nakte wurzel beim ſubſt. nur im acc. und voc. ſg. erſter
und vierter männl. und vierter weibl., dann im nom. acc.
voc. erſter neutraler decl.; beim adj. nur zuweilen im acc.
voc. neutr. erſter decl.; beim verbum nur im II. ſg. imp.
(analog dem voc.) und I. III. ſg. praet. ind. ſtarker con-
jugation; nie in allen den vielen übrigen fällen, wo z. b.
im nhd. und neuengl. flexion und ableitung weggeworfen
werden. Da nun ein goth. vaúrdata f. vaúrd, fiſkana f.
fiſk, háiháitam f. háihait etc. 1, 808. 1043. vermuthet
wurden, im lat. und griech. auch noch weniger baare
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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