Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. wortbildung. einleitung.
alth. ei (ovum) mit altn. egg; altn. a (flumen) mit alth.
aha. Der vocal darf die wurzel anheben, z. b. goth.
ab-a (vir) and-i (finis), beschließen nur in unablautba-
ren partikeln, pronominal- und zahlwortsformen, wie:
ni, bi, du, thu, ba, tva etc. nicht im eigentlichen ver-
bum und nomen, d. h. höchstens scheinbar, bei abgefal-
lenen consonanten, vgl. mhd. se, zwei mit goth. saivs,
ags. tveig. Die consonanz der wurzel kann einfach sein,
oder verbindung mehrerer. Der eine consonant, den sie
geringsten falls hat, steht im nomen und verbum noth-
wendig hinten, z. b. aus-o (auris), weit häufiger wird
der vocal von zwei consonanten eingeschloßen: mal-an
(molere). Es dürfen aber auch zweie anheben, zweie
schließen: blind (coecum); zweie anheben und einer
schließen: trud-an (calcare); einer anheben und zwei
schließen: bind-an (nectere). Dreie heben an: sprauto
(subito) alth. streit (pugna), schließen aber niemahls d. h.
jeder auf den vocal folgende dritte cons. gehört der ab-
leitung, z. b. kunst (ars) ist nothwendig kun-s-t *).
Mithin sind fünf consonanten das höchste, was einer deut-
schen wurzel gebührt, z. b. alth. streng-i (fortis), ge-
wöhnlich zählt sie deren zwei, drei, vier, selten fünfe
und einen.

Die reihen starker conjugation ordnen sich nach dem
einfachen oder doppelten cons., welcher die wurzel
schließt; auf die anlautende consonanz kommt nichts da-
bei an. Auch die wortbildungslehre scheint der conso-
nantanlaut wenig anzugehen, weil die ableitung hinten,
nicht vornen zufügt und anlaute insgemein dauerhafter,
als auslaute sind. Gleichwohl blicken hin und wieder in
dem anlaut verdächtige, d. h. unursprünglichkeit ver-
rathende elemente durch, die eine tiefer greifende unter-
suchung auszuscheiden hätte; wer übersieht z. b. die ver-
wandtschaft zwischen dem goth. auso (auris) und hauljan
(audire) alth. ora, horjan? Ein so fuhlbares verhältnis
weiß unsere sprache nicht mehr nachzuweisen **) und

*) Einziger einwand gegen diesen grundsatz kann aus den
adj. perht (lueidus) zorht (splendidus) vorht (timens) herge-
nommen werden; davon cap. 3. in der anmerkung über
die verbal-adjectiva.
**) Noch näher liegen sich lat. auris und audire, directe ab-
leitung scheint auch dabei unthunlich; vgl. litth. ausis (au-
ris) mit klausyti (audire) d. h. alth. hlos[e]n.

III. wortbildung. einleitung.
alth. ei (ovum) mit altn. egg; altn. â (flumen) mit alth.
aha. Der vocal darf die wurzel anheben, z. b. goth.
ab-a (vir) and-i (finis), beſchließen nur in unablautba-
ren partikeln, pronominal- und zahlwortsformen, wie:
ni, bi, du, þu, ba, tva etc. nicht im eigentlichen ver-
bum und nomen, d. h. höchſtens ſcheinbar, bei abgefal-
lenen conſonanten, vgl. mhd. ſê, zwî mit goth. ſáivs,
agſ. tvîg. Die conſonanz der wurzel kann einfach ſein,
oder verbindung mehrerer. Der eine conſonant, den ſie
geringſten falls hat, ſteht im nomen und verbum noth-
wendig hinten, z. b. áuſ-ô (auris), weit häufiger wird
der vocal von zwei conſonanten eingeſchloßen: mal-an
(molere). Es dürfen aber auch zweie anheben, zweie
ſchließen: blind (coecum); zweie anheben und einer
ſchließen: trud-an (calcare); einer anheben und zwei
ſchließen: bind-an (nectere). Dreie heben an: ſpráutô
(ſubito) alth. ſtrît (pugna), ſchließen aber niemahls d. h.
jeder auf den vocal folgende dritte conſ. gehört der ab-
leitung, z. b. kunſt (ars) iſt nothwendig kun-ſ-t *).
Mithin ſind fünf conſonanten das höchſte, was einer deut-
ſchen wurzel gebührt, z. b. alth. ſtreng-i (fortis), ge-
wöhnlich zählt ſie deren zwei, drei, vier, ſelten fünfe
und einen.

Die reihen ſtarker conjugation ordnen ſich nach dem
einfachen oder doppelten conſ., welcher die wurzel
ſchließt; auf die anlautende conſonanz kommt nichts da-
bei an. Auch die wortbildungslehre ſcheint der conſo-
nantanlaut wenig anzugehen, weil die ableitung hinten,
nicht vornen zufügt und anlaute insgemein dauerhafter,
als auslaute ſind. Gleichwohl blicken hin und wieder in
dem anlaut verdächtige, d. h. unurſprünglichkeit ver-
rathende elemente durch, die eine tiefer greifende unter-
ſuchung auszuſcheiden hätte; wer überſieht z. b. die ver-
wandtſchaft zwiſchen dem goth. áuſô (auris) und háuljan
(audire) alth. ôra, hôrjan? Ein ſo fuhlbares verhältnis
weiß unſere ſprache nicht mehr nachzuweiſen **) und

*) Einziger einwand gegen dieſen grundſatz kann aus den
adj. përht (lueidus) zorht (ſplendidus) vorht (timens) herge-
nommen werden; davon cap. 3. in der anmerkung über
die verbal-adjectiva.
**) Noch näher liegen ſich lat. auris und audire, directe ab-
leitung ſcheint auch dabei unthunlich; vgl. litth. auſis (au-
ris) mit klauſyti (audire) d. h. alth. hloſ[e]n.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0020" n="2"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">wortbildung. einleitung.</hi></hi></fw><lb/>
alth. ei (ovum) mit altn. egg; altn. â (flumen) mit alth.<lb/>
aha. Der vocal darf die wurzel anheben, z. b. goth.<lb/>
ab-a (vir) and-i (finis), be&#x017F;chließen nur in unablautba-<lb/>
ren partikeln, pronominal- und zahlwortsformen, wie:<lb/>
ni, bi, du, þu, ba, tva etc. nicht im eigentlichen ver-<lb/>
bum und nomen, d. h. höch&#x017F;tens &#x017F;cheinbar, bei abgefal-<lb/>
lenen con&#x017F;onanten, vgl. mhd. &#x017F;ê, zwî mit goth. &#x017F;áivs,<lb/>
ag&#x017F;. tvîg. Die con&#x017F;onanz der wurzel kann einfach &#x017F;ein,<lb/>
oder verbindung mehrerer. Der eine con&#x017F;onant, den &#x017F;ie<lb/>
gering&#x017F;ten falls hat, &#x017F;teht im nomen und verbum noth-<lb/>
wendig hinten, z. b. áu&#x017F;-ô (auris), weit häufiger wird<lb/>
der vocal von zwei con&#x017F;onanten einge&#x017F;chloßen: mal-an<lb/>
(molere). Es dürfen aber auch zweie anheben, zweie<lb/>
&#x017F;chließen: blind (coecum); zweie anheben und einer<lb/>
&#x017F;chließen: trud-an (calcare); einer anheben und zwei<lb/>
&#x017F;chließen: bind-an (nectere). Dreie heben an: &#x017F;práutô<lb/>
(&#x017F;ubito) alth. &#x017F;trît (pugna), &#x017F;chließen aber niemahls d. h.<lb/>
jeder auf den vocal folgende dritte con&#x017F;. gehört der ab-<lb/>
leitung, z. b. kun&#x017F;t (ars) i&#x017F;t nothwendig kun-&#x017F;-t <note place="foot" n="*)">Einziger einwand gegen die&#x017F;en grund&#x017F;atz kann aus den<lb/>
adj. përht (lueidus) zorht (&#x017F;plendidus) vorht (timens) herge-<lb/>
nommen werden; davon cap. 3. in der anmerkung über<lb/>
die verbal-adjectiva.</note>.<lb/>
Mithin &#x017F;ind fünf con&#x017F;onanten das höch&#x017F;te, was einer deut-<lb/>
&#x017F;chen wurzel gebührt, z. b. alth. &#x017F;treng-i (fortis), ge-<lb/>
wöhnlich zählt &#x017F;ie deren zwei, drei, vier, &#x017F;elten fünfe<lb/>
und einen.</p><lb/>
        <p>Die reihen &#x017F;tarker conjugation ordnen &#x017F;ich nach dem<lb/>
einfachen oder doppelten con&#x017F;., welcher die wurzel<lb/>
&#x017F;chließt; auf die anlautende con&#x017F;onanz kommt nichts da-<lb/>
bei an. Auch die wortbildungslehre &#x017F;cheint der con&#x017F;o-<lb/>
nantanlaut wenig anzugehen, weil die ableitung hinten,<lb/>
nicht vornen zufügt und anlaute insgemein dauerhafter,<lb/>
als auslaute &#x017F;ind. Gleichwohl blicken hin und wieder in<lb/>
dem anlaut verdächtige, d. h. unur&#x017F;prünglichkeit ver-<lb/>
rathende elemente durch, die eine tiefer greifende unter-<lb/>
&#x017F;uchung auszu&#x017F;cheiden hätte; wer über&#x017F;ieht z. b. die ver-<lb/>
wandt&#x017F;chaft zwi&#x017F;chen dem goth. áu&#x017F;ô (auris) und háuljan<lb/>
(audire) alth. ôra, hôrjan? Ein &#x017F;o fuhlbares verhältnis<lb/>
weiß un&#x017F;ere &#x017F;prache nicht mehr nachzuwei&#x017F;en <note place="foot" n="**)">Noch näher liegen &#x017F;ich lat. auris und audire, directe ab-<lb/>
leitung &#x017F;cheint auch dabei unthunlich; vgl. litth. au&#x017F;is (au-<lb/>
ris) mit klau&#x017F;yti (audire) d. h. alth. hlo&#x017F;<supplied>e</supplied>n.</note> und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0020] III. wortbildung. einleitung. alth. ei (ovum) mit altn. egg; altn. â (flumen) mit alth. aha. Der vocal darf die wurzel anheben, z. b. goth. ab-a (vir) and-i (finis), beſchließen nur in unablautba- ren partikeln, pronominal- und zahlwortsformen, wie: ni, bi, du, þu, ba, tva etc. nicht im eigentlichen ver- bum und nomen, d. h. höchſtens ſcheinbar, bei abgefal- lenen conſonanten, vgl. mhd. ſê, zwî mit goth. ſáivs, agſ. tvîg. Die conſonanz der wurzel kann einfach ſein, oder verbindung mehrerer. Der eine conſonant, den ſie geringſten falls hat, ſteht im nomen und verbum noth- wendig hinten, z. b. áuſ-ô (auris), weit häufiger wird der vocal von zwei conſonanten eingeſchloßen: mal-an (molere). Es dürfen aber auch zweie anheben, zweie ſchließen: blind (coecum); zweie anheben und einer ſchließen: trud-an (calcare); einer anheben und zwei ſchließen: bind-an (nectere). Dreie heben an: ſpráutô (ſubito) alth. ſtrît (pugna), ſchließen aber niemahls d. h. jeder auf den vocal folgende dritte conſ. gehört der ab- leitung, z. b. kunſt (ars) iſt nothwendig kun-ſ-t *). Mithin ſind fünf conſonanten das höchſte, was einer deut- ſchen wurzel gebührt, z. b. alth. ſtreng-i (fortis), ge- wöhnlich zählt ſie deren zwei, drei, vier, ſelten fünfe und einen. Die reihen ſtarker conjugation ordnen ſich nach dem einfachen oder doppelten conſ., welcher die wurzel ſchließt; auf die anlautende conſonanz kommt nichts da- bei an. Auch die wortbildungslehre ſcheint der conſo- nantanlaut wenig anzugehen, weil die ableitung hinten, nicht vornen zufügt und anlaute insgemein dauerhafter, als auslaute ſind. Gleichwohl blicken hin und wieder in dem anlaut verdächtige, d. h. unurſprünglichkeit ver- rathende elemente durch, die eine tiefer greifende unter- ſuchung auszuſcheiden hätte; wer überſieht z. b. die ver- wandtſchaft zwiſchen dem goth. áuſô (auris) und háuljan (audire) alth. ôra, hôrjan? Ein ſo fuhlbares verhältnis weiß unſere ſprache nicht mehr nachzuweiſen **) und *) Einziger einwand gegen dieſen grundſatz kann aus den adj. përht (lueidus) zorht (ſplendidus) vorht (timens) herge- nommen werden; davon cap. 3. in der anmerkung über die verbal-adjectiva. **) Noch näher liegen ſich lat. auris und audire, directe ab- leitung ſcheint auch dabei unthunlich; vgl. litth. auſis (au- ris) mit klauſyti (audire) d. h. alth. hloſen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/20
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/20>, abgerufen am 21.11.2024.