Nach und nach werden die alten vocalverhältnisse der meisten ableitungen gestört und aufgehoben, ihre leben- dige färbung erblaßt. Langvocalische retten sich nur in seltnen fällen, wenn sie den zweideutigen schein von wur- zeln annehmen, so -eiß (s. 221.) -eit (s. 251.) -uot (s. 256.) In der regel werden lange und kurze vocale zu unbe- tontem und stummem e oder i, das nach umständen ganz ausfällt. Seit dem zehnten jahrh. ist im ahd. fast kein a, i, u der ableitung in ursprünglicher reinheit mehr anzu- treffen. Nur da, wo schein einer wurzel entspringt, kann sich auch der kurze vocal erhalten, vgl. -sal (s. 106. 107.), -und (s. 343.), -niss, -ling, in mehrfachen selbst ohne solchen schein, -ing, -ung; zuweilen verändert er sich (eidam, s. 151.). Reinvocalische ableitungen schwinden häufig ganz, zumahl bei nachfolgender flexion (nament- lich in den schwachen conjugationen und in den zweiten declinationen); bisweilen auch unflectiert, z. b. im nhd. netz, bett, heer, meer, glück. Geschwundnes i, oder daß tonloses e der ableitung früher i, ei war, zeigt der umgelautete wurzelvocal an (nhd. netz, engel, knüttel), so wie unumlaut unorganisches i verräth (muthig, gewal- tig). Aehnliches gilt vom altn. u der ableitung.
Betrachten wir die vocale in dem ältesten stande die- ser ableitungen, so scheint zwar das u mehrern formeln zuzukommen, als das i, da es namentlich kein ir, im, ig, ih gibt. Allein die meisten formeln des i sind dafür reichhaltiger, beinahe wie die des a. Frühere u pflegen mitunter in i überzutreten (sigu, sigi; wirtun, wirtin) und dann das schicksal der übrigen i zu theilen. Das wichtigste in dem verhältnis der drei ableitenden kurzen vocale ist aber theils die abwesenheit des a in reinvoca- lischen ableitungen (s. 92. 93.), theils sein übergewicht in den consonantischen, theils in diesen sein leichterer aus- fall. Drei erscheinungen, deren ursachen vermuthlich nahe zusammenhängen.
Warum ist das bloße, von consonanten unbegleitete a in der wortbildung kein ableiter? Der grund, daß es in der flexion zu viel gebraucht werde, reicht nicht hin, zumahl die flexionsvocale nach den dialecten großer ver- schiedenheit unterworfen sind. In goth. und ags. flexio- nen mag a freilich vorherrschen, von den ahd. läßt es sich weniger behaupten. Auch haben i und u in den flexionen keine kleine rolle zu spielen. Es muß also ein tieferer grund vorhanden sein, den uns die geschichte
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III. ableitung. ſchlußbemerkungen.
Nach und nach werden die alten vocalverhältniſſe der meiſten ableitungen geſtört und aufgehoben, ihre leben- dige färbung erblaßt. Langvocaliſche retten ſich nur in ſeltnen fällen, wenn ſie den zweideutigen ſchein von wur- zeln annehmen, ſo -eiƷ (ſ. 221.) -eit (ſ. 251.) -uot (ſ. 256.) In der regel werden lange und kurze vocale zu unbe- tontem und ſtummem e oder i, das nach umſtänden ganz ausfällt. Seit dem zehnten jahrh. iſt im ahd. faſt kein a, i, u der ableitung in urſprünglicher reinheit mehr anzu- treffen. Nur da, wo ſchein einer wurzel entſpringt, kann ſich auch der kurze vocal erhalten, vgl. -ſal (ſ. 106. 107.), -und (ſ. 343.), -niſſ, -ling, in mehrfachen ſelbſt ohne ſolchen ſchein, -ing, -ung; zuweilen verändert er ſich (eidam, ſ. 151.). Reinvocaliſche ableitungen ſchwinden häufig ganz, zumahl bei nachfolgender flexion (nament- lich in den ſchwachen conjugationen und in den zweiten declinationen); bisweilen auch unflectiert, z. b. im nhd. netz, bett, heer, meer, glück. Geſchwundnes i, oder daß tonloſes e der ableitung früher i, î war, zeigt der umgelautete wurzelvocal an (nhd. netz, engel, knüttel), ſo wie unumlaut unorganiſches i verräth (muthig, gewal- tig). Aehnliches gilt vom altn. u der ableitung.
Betrachten wir die vocale in dem älteſten ſtande die- ſer ableitungen, ſo ſcheint zwar das u mehrern formeln zuzukommen, als das i, da es namentlich kein ir, im, ig, ih gibt. Allein die meiſten formeln des i ſind dafür reichhaltiger, beinahe wie die des a. Frühere u pflegen mitunter in i überzutreten (ſigu, ſigi; wirtun, wirtin) und dann das ſchickſal der übrigen i zu theilen. Das wichtigſte in dem verhältnis der drei ableitenden kurzen vocale iſt aber theils die abweſenheit des a in reinvoca- liſchen ableitungen (ſ. 92. 93.), theils ſein übergewicht in den conſonantiſchen, theils in dieſen ſein leichterer aus- fall. Drei erſcheinungen, deren urſachen vermuthlich nahe zuſammenhängen.
Warum iſt das bloße, von conſonanten unbegleitete a in der wortbildung kein ableiter? Der grund, daß es in der flexion zu viel gebraucht werde, reicht nicht hin, zumahl die flexionsvocale nach den dialecten großer ver- ſchiedenheit unterworfen ſind. In goth. und agſ. flexio- nen mag a freilich vorherrſchen, von den ahd. läßt es ſich weniger behaupten. Auch haben i und u in den flexionen keine kleine rolle zu ſpielen. Es muß alſo ein tieferer grund vorhanden ſein, den uns die geſchichte
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III. ableitung. ſchlußbemerkungen.
Nach und nach werden die alten vocalverhältniſſe der
meiſten ableitungen geſtört und aufgehoben, ihre leben-
dige färbung erblaßt. Langvocaliſche retten ſich nur in
ſeltnen fällen, wenn ſie den zweideutigen ſchein von wur-
zeln annehmen, ſo -eiƷ (ſ. 221.) -eit (ſ. 251.) -uot (ſ. 256.)
In der regel werden lange und kurze vocale zu unbe-
tontem und ſtummem e oder i, das nach umſtänden ganz
ausfällt. Seit dem zehnten jahrh. iſt im ahd. faſt kein a,
i, u der ableitung in urſprünglicher reinheit mehr anzu-
treffen. Nur da, wo ſchein einer wurzel entſpringt,
kann ſich auch der kurze vocal erhalten, vgl. -ſal (ſ. 106.
107.), -und (ſ. 343.), -niſſ, -ling, in mehrfachen ſelbſt
ohne ſolchen ſchein, -ing, -ung; zuweilen verändert er
ſich (eidam, ſ. 151.). Reinvocaliſche ableitungen ſchwinden
häufig ganz, zumahl bei nachfolgender flexion (nament-
lich in den ſchwachen conjugationen und in den zweiten
declinationen); bisweilen auch unflectiert, z. b. im nhd.
netz, bett, heer, meer, glück. Geſchwundnes i, oder
daß tonloſes e der ableitung früher i, î war, zeigt der
umgelautete wurzelvocal an (nhd. netz, engel, knüttel),
ſo wie unumlaut unorganiſches i verräth (muthig, gewal-
tig). Aehnliches gilt vom altn. u der ableitung.
Betrachten wir die vocale in dem älteſten ſtande die-
ſer ableitungen, ſo ſcheint zwar das u mehrern formeln
zuzukommen, als das i, da es namentlich kein ir, im,
ig, ih gibt. Allein die meiſten formeln des i ſind dafür
reichhaltiger, beinahe wie die des a. Frühere u pflegen
mitunter in i überzutreten (ſigu, ſigi; wirtun, wirtin)
und dann das ſchickſal der übrigen i zu theilen. Das
wichtigſte in dem verhältnis der drei ableitenden kurzen
vocale iſt aber theils die abweſenheit des a in reinvoca-
liſchen ableitungen (ſ. 92. 93.), theils ſein übergewicht in
den conſonantiſchen, theils in dieſen ſein leichterer aus-
fall. Drei erſcheinungen, deren urſachen vermuthlich
nahe zuſammenhängen.
Warum iſt das bloße, von conſonanten unbegleitete
a in der wortbildung kein ableiter? Der grund, daß es
in der flexion zu viel gebraucht werde, reicht nicht hin,
zumahl die flexionsvocale nach den dialecten großer ver-
ſchiedenheit unterworfen ſind. In goth. und agſ. flexio-
nen mag a freilich vorherrſchen, von den ahd. läßt es
ſich weniger behaupten. Auch haben i und u in den
flexionen keine kleine rolle zu ſpielen. Es muß alſo ein
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/405>, abgerufen am 22.11.2024.
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