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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. verbale composition. anmerkungen.
andere wörter. Daher die freie bedeutung verbaler zu-
sammensetzungen.

b) aus der participialen und infinitivischen kann umge-
kehrt die verbalflexion nicht wegbleiben, da part. und inf.
als nomina betrachtet, ihren verbalbestandtheil in sich ver-
härten und er dadurch jedem andern derivationsmittel
gleichkommt. Daher, wie noch künftige untersuchungen
auszumitteln haben, adjectiva der ableitung -an (s. 164.
165.) veraltete starke part. praet. sein mögen. Die zus.
setzung mit part. und inf. ist also im grund nominal und
wie andere nominale zu beurtheilen, hat auch, wenn sie
nicht uneigentlich ist, jede nominalflexion wegzuwerfen.

c) gleichwohl führt die im part. und inf. nie ganz
erloschne verbale natur und bedeutung berührungen mit
der rein verbalen composition herbei. Diese bildun-
gen scheinen sich gegenseitig zu verdrängen und aufzu-
reiben, bis endlich in den späteren überresten die sichere
spur ihres individuellen ursprungs ausgeht. Ohne die ahd.
sprache wüsten wir nicht einmahl bestimmt, daß es vier-
erlei formen gebe 1) dola-leih (passibilis) 2) dolent-leih (to-
lerandus) 3) kidolet-leih? 4) dolen-leih (luctuosus). Die
bedeutungen streifen aneinander und verschwimmen, die
sprache genügt sich bald an einer dieser formen für jede
bedeutung. Für keine einzelne zusammensetzung laßen
sich alle formen nachweisen und kidoletleih im beispiel ist
bloß gefolgert aus errahhotleih; furistantleih und farstan-
tantleih, beide in K., glossieren beide das lat. intelligibilis.
Im ags. schwanken -endlic und -edlic (acvencendlic, ac-
vencedlic, avendendleic, avendedlic) ohne unterschied der
bedeutung; im ahd. picher-lih (versatilis) archeranleih (flexi-
bilis) muß die verschiedenheit der partikel angeschlagen
werden. Die comp. mit dem part. praet. sollte mehr das
geschehene, bewirkte, die mit dem part. praes. und inf.
das geschehende, z. b. erkennenlich (noscibilis) erkantlih
(notus), doch das nhd. erkentlich bedeutet offenbar nosci-
bilis). Es kommt auf sammlung von alten beispielen aus
lebendigem zusammenhang, nicht aus bloßen glossen an.

d) reinverbale composition überhaupt zu leugnen und
aus participialer oder infinitivischer durch ausfall der
flexion zu deuten, obgleich diese deutung in einzelnen
fällen richtig sein kann, scheint unstatthaft. Theils be-
weisen die verbalcomponierten subst. (s. 680.) auch für
adj., theils wäre das i im mhd. genislich aus inf. und

III. verbale compoſition. anmerkungen.
andere wörter. Daher die freie bedeutung verbaler zu-
ſammenſetzungen.

b) aus der participialen und infinitiviſchen kann umge-
kehrt die verbalflexion nicht wegbleiben, da part. und inf.
als nomina betrachtet, ihren verbalbeſtandtheil in ſich ver-
härten und er dadurch jedem andern derivationsmittel
gleichkommt. Daher, wie noch künftige unterſuchungen
auszumitteln haben, adjectiva der ableitung -an (ſ. 164.
165.) veraltete ſtarke part. praet. ſein mögen. Die zuſ.
ſetzung mit part. und inf. iſt alſo im grund nominal und
wie andere nominale zu beurtheilen, hat auch, wenn ſie
nicht uneigentlich iſt, jede nominalflexion wegzuwerfen.

c) gleichwohl führt die im part. und inf. nie ganz
erloſchne verbale natur und bedeutung berührungen mit
der rein verbalen compoſition herbei. Dieſe bildun-
gen ſcheinen ſich gegenſeitig zu verdrängen und aufzu-
reiben, bis endlich in den ſpäteren überreſten die ſichere
ſpur ihres individuellen urſprungs ausgeht. Ohne die ahd.
ſprache wüſten wir nicht einmahl beſtimmt, daß es vier-
erlei formen gebe 1) dola-lîh (paſſibilis) 2) dolênt-lîh (to-
lerandus) 3) kidolêt-lîh? 4) dolên-lîh (luctuoſus). Die
bedeutungen ſtreifen aneinander und verſchwimmen, die
ſprache genügt ſich bald an einer dieſer formen für jede
bedeutung. Für keine einzelne zuſammenſetzung laßen
ſich alle formen nachweiſen und kidolêtlîh im beiſpiel iſt
bloß gefolgert aus errahhôtlîh; furiſtantlîh und farſtan-
tantlîh, beide in K., gloſſieren beide das lat. intelligibilis.
Im agſ. ſchwanken -endlic und -edlic (âcvencendlic, ac-
vencedlic, âvendendlîc, âvendedlic) ohne unterſchied der
bedeutung; im ahd. pichêr-lih (verſatilis) archêranlîh (flexi-
bilis) muß die verſchiedenheit der partikel angeſchlagen
werden. Die comp. mit dem part. praet. ſollte mehr das
geſchehene, bewirkte, die mit dem part. praeſ. und inf.
das geſchehende, z. b. erkennenlich (noſcibilis) erkantlih
(notus), doch das nhd. erkentlich bedeutet offenbar noſci-
bilis). Es kommt auf ſammlung von alten beiſpielen aus
lebendigem zuſammenhang, nicht aus bloßen gloſſen an.

d) reinverbale compoſition überhaupt zu leugnen und
aus participialer oder infinitiviſcher durch ausfall der
flexion zu deuten, obgleich dieſe deutung in einzelnen
fällen richtig ſein kann, ſcheint unſtatthaft. Theils be-
weiſen die verbalcomponierten ſubſt. (ſ. 680.) auch für
adj., theils wäre das i im mhd. genislich aus inf. und

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[696/0714] III. verbale compoſition. anmerkungen. andere wörter. Daher die freie bedeutung verbaler zu- ſammenſetzungen. b) aus der participialen und infinitiviſchen kann umge- kehrt die verbalflexion nicht wegbleiben, da part. und inf. als nomina betrachtet, ihren verbalbeſtandtheil in ſich ver- härten und er dadurch jedem andern derivationsmittel gleichkommt. Daher, wie noch künftige unterſuchungen auszumitteln haben, adjectiva der ableitung -an (ſ. 164. 165.) veraltete ſtarke part. praet. ſein mögen. Die zuſ. ſetzung mit part. und inf. iſt alſo im grund nominal und wie andere nominale zu beurtheilen, hat auch, wenn ſie nicht uneigentlich iſt, jede nominalflexion wegzuwerfen. c) gleichwohl führt die im part. und inf. nie ganz erloſchne verbale natur und bedeutung berührungen mit der rein verbalen compoſition herbei. Dieſe bildun- gen ſcheinen ſich gegenſeitig zu verdrängen und aufzu- reiben, bis endlich in den ſpäteren überreſten die ſichere ſpur ihres individuellen urſprungs ausgeht. Ohne die ahd. ſprache wüſten wir nicht einmahl beſtimmt, daß es vier- erlei formen gebe 1) dola-lîh (paſſibilis) 2) dolênt-lîh (to- lerandus) 3) kidolêt-lîh? 4) dolên-lîh (luctuoſus). Die bedeutungen ſtreifen aneinander und verſchwimmen, die ſprache genügt ſich bald an einer dieſer formen für jede bedeutung. Für keine einzelne zuſammenſetzung laßen ſich alle formen nachweiſen und kidolêtlîh im beiſpiel iſt bloß gefolgert aus errahhôtlîh; furiſtantlîh und farſtan- tantlîh, beide in K., gloſſieren beide das lat. intelligibilis. Im agſ. ſchwanken -endlic und -edlic (âcvencendlic, ac- vencedlic, âvendendlîc, âvendedlic) ohne unterſchied der bedeutung; im ahd. pichêr-lih (verſatilis) archêranlîh (flexi- bilis) muß die verſchiedenheit der partikel angeſchlagen werden. Die comp. mit dem part. praet. ſollte mehr das geſchehene, bewirkte, die mit dem part. praeſ. und inf. das geſchehende, z. b. erkennenlich (noſcibilis) erkantlih (notus), doch das nhd. erkentlich bedeutet offenbar noſci- bilis). Es kommt auf ſammlung von alten beiſpielen aus lebendigem zuſammenhang, nicht aus bloßen gloſſen an. d) reinverbale compoſition überhaupt zu leugnen und aus participialer oder infinitiviſcher durch ausfall der flexion zu deuten, obgleich dieſe deutung in einzelnen fällen richtig ſein kann, ſcheint unſtatthaft. Theils be- weiſen die verbalcomponierten ſubſt. (ſ. 680.) auch für adj., theils wäre das i im mhd. genislich aus inf. und

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/714>, abgerufen am 22.11.2024.