Von den der sprache verbliebenen starken verbis ist eine ansehnliche zahl wortbildungen, welche sich ohne zweifel noch sehr vermehren läßt, dargelegt wor- den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe von wörtern, die mir im verhältnisse des lauts und ab- lauts zu stehen scheinen auf verlorene starke stämme zurückzuführen gesucht. Was im einzelnen verfehlt wurde mag sich aufheben gegen das richtige, welches fortgesetzter forschung hinzuzufügen vorbehalten bleibt. Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer- den, daß aus den solchergestalt nachgewiesenen quellen über siebenthalbhundert deutscher wurzeln eine unzahl von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit ströme. Sie machen die deutlichste kraft und grundlage unserer sprache aus.
Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu- tende masse von wörtern zurück, die auf ihren ein- fachen bestandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch- staben entbunden, der vergleichenden untersuchung wei- ter keine verhältnisse des lauts und ablauts darzubieten scheinen. Sie nenne ich verwaiste wurzeln. Nur nach dürrer, unsicherer analogie laßen sie sich in die ablau- tende conjugation einstellen, während bei den unter B angeführten wörtern einstimmige verwandtschaft mehrerer glieder eines geschlechts den schluß auf den untergegan- genen stamm wahrscheinlich machte.
Statt von solchen allein stehenden wörtern im all- gemeinen unnöthige beispiele zu geben, will ich die gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große behutsamkeit anzuwenden rathen:
a) die regeren kurzen vocale a, i, u sind schwieriger zu faßen; außer den s. 6. angeführten formeln, welche zweimahl verschieden vorkommen können, haben uns die vermuthlichen starken verba noch folgende weitere ergeben: il steht VIII und IX; um, un stehen IX und XI. Zweifelhaft würde also z. b. sein, ob das alth. suan, altn. svanr (cignus) von svinan, svan oder von svanan, svon stamme? zweifelhaft, ob das goth. nati (rete) der form natan, not oder nitan, nat, netun an- gehöre? für jenes ließe sich etwa nota (puppis) her- beiziehen, für letzteres mit mehr wahrscheinlichkeit alth. neßila, ags. netele (urtica), aus der man faden
III. laut u. ablaut. verwaiſte wurzeln.
C. verwaiſte wurzeln.
Von den der ſprache verbliebenen ſtarken verbis iſt eine anſehnliche zahl wortbildungen, welche ſich ohne zweifel noch ſehr vermehren läßt, dargelegt wor- den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe von wörtern, die mir im verhältniſſe des lauts und ab- lauts zu ſtehen ſcheinen auf verlorene ſtarke ſtämme zurückzuführen geſucht. Was im einzelnen verfehlt wurde mag ſich aufheben gegen das richtige, welches fortgeſetzter forſchung hinzuzufügen vorbehalten bleibt. Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer- den, daß aus den ſolchergeſtalt nachgewieſenen quellen über ſiebenthalbhundert deutſcher wurzeln eine unzahl von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit ſtröme. Sie machen die deutlichſte kraft und grundlage unſerer ſprache aus.
Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu- tende maſſe von wörtern zurück, die auf ihren ein- fachen beſtandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch- ſtaben entbunden, der vergleichenden unterſuchung wei- ter keine verhältniſſe des lauts und ablauts darzubieten ſcheinen. Sie nenne ich verwaiſte wurzeln. Nur nach dürrer, unſicherer analogie laßen ſie ſich in die ablau- tende conjugation einſtellen, während bei den unter B angeführten wörtern einſtimmige verwandtſchaft mehrerer glieder eines geſchlechts den ſchluß auf den untergegan- genen ſtamm wahrſcheinlich machte.
Statt von ſolchen allein ſtehenden wörtern im all- gemeinen unnöthige beiſpiele zu geben, will ich die gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große behutſamkeit anzuwenden rathen:
a) die regeren kurzen vocale a, i, u ſind ſchwieriger zu faßen; außer den ſ. 6. angeführten formeln, welche zweimahl verſchieden vorkommen können, haben uns die vermuthlichen ſtarken verba noch folgende weitere ergeben: ïl ſteht VIII und IX; um, un ſtehen IX und XI. Zweifelhaft würde alſo z. b. ſein, ob das alth. ſuan, altn. ſvanr (cignus) von ſvinan, ſvan oder von ſvanan, ſvôn ſtamme? zweifelhaft, ob das goth. nati (rete) der form natan, nôt oder nitan, nat, nêtun an- gehöre? für jenes ließe ſich etwa nôta (puppis) her- beiziehen, für letzteres mit mehr wahrſcheinlichkeit alth. nëƷila, agſ. nëtele (urtica), aus der man faden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0082"n="64"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">III. <hirendition="#i">laut u. ablaut. verwaiſte wurzeln.</hi></hi></fw><lb/><divn="3"><head>C. <hirendition="#i">verwaiſte wurzeln.</hi></head><lb/><p>Von den der ſprache verbliebenen ſtarken verbis iſt<lb/>
eine anſehnliche zahl wortbildungen, welche ſich ohne<lb/>
zweifel noch ſehr vermehren läßt, dargelegt wor-<lb/>
den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe<lb/>
von wörtern, die mir im verhältniſſe des lauts und ab-<lb/>
lauts zu ſtehen ſcheinen auf verlorene ſtarke ſtämme<lb/>
zurückzuführen geſucht. Was im einzelnen verfehlt<lb/>
wurde mag ſich aufheben gegen das richtige, welches<lb/>
fortgeſetzter forſchung hinzuzufügen vorbehalten bleibt.<lb/>
Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer-<lb/>
den, daß aus den ſolchergeſtalt nachgewieſenen quellen<lb/>
über ſiebenthalbhundert deutſcher wurzeln eine unzahl<lb/>
von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit<lb/>ſtröme. Sie machen die deutlichſte kraft und grundlage<lb/>
unſerer ſprache aus.</p><lb/><p>Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu-<lb/>
tende maſſe von wörtern zurück, die auf ihren ein-<lb/>
fachen beſtandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch-<lb/>ſtaben entbunden, der vergleichenden unterſuchung wei-<lb/>
ter keine verhältniſſe des lauts und ablauts darzubieten<lb/>ſcheinen. Sie nenne ich verwaiſte wurzeln. Nur nach<lb/>
dürrer, unſicherer analogie laßen ſie ſich in die ablau-<lb/>
tende conjugation einſtellen, während bei den unter B<lb/>
angeführten wörtern einſtimmige verwandtſchaft mehrerer<lb/>
glieder eines geſchlechts den ſchluß auf den untergegan-<lb/>
genen ſtamm wahrſcheinlich machte.</p><lb/><p>Statt von ſolchen allein ſtehenden wörtern im all-<lb/>
gemeinen unnöthige beiſpiele zu geben, will ich die<lb/>
gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große<lb/>
behutſamkeit anzuwenden rathen:</p><lb/><list><item>a) die regeren kurzen vocale a, i, u ſind ſchwieriger zu<lb/>
faßen; außer den ſ. 6. angeführten formeln, welche<lb/>
zweimahl verſchieden vorkommen können, haben uns<lb/>
die vermuthlichen ſtarken verba noch folgende weitere<lb/>
ergeben: <hirendition="#i">ïl</hi>ſteht VIII und IX; <hirendition="#i">um</hi>, <hirendition="#i">un</hi>ſtehen IX und<lb/>
XI. Zweifelhaft würde alſo z. b. ſein, ob das alth.<lb/>ſuan, altn. ſvanr (cignus) von ſvinan, ſvan oder von<lb/>ſvanan, ſvôn ſtamme? zweifelhaft, ob das goth. nati<lb/>
(rete) der form natan, nôt oder nitan, nat, nêtun an-<lb/>
gehöre? für jenes ließe ſich etwa nôta (puppis) her-<lb/>
beiziehen, für letzteres mit mehr wahrſcheinlichkeit<lb/>
alth. nëƷila, agſ. nëtele (urtica), aus der man faden<lb/></item></list></div></div></div></body></text></TEI>
[64/0082]
III. laut u. ablaut. verwaiſte wurzeln.
C. verwaiſte wurzeln.
Von den der ſprache verbliebenen ſtarken verbis iſt
eine anſehnliche zahl wortbildungen, welche ſich ohne
zweifel noch ſehr vermehren läßt, dargelegt wor-
den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe
von wörtern, die mir im verhältniſſe des lauts und ab-
lauts zu ſtehen ſcheinen auf verlorene ſtarke ſtämme
zurückzuführen geſucht. Was im einzelnen verfehlt
wurde mag ſich aufheben gegen das richtige, welches
fortgeſetzter forſchung hinzuzufügen vorbehalten bleibt.
Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer-
den, daß aus den ſolchergeſtalt nachgewieſenen quellen
über ſiebenthalbhundert deutſcher wurzeln eine unzahl
von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit
ſtröme. Sie machen die deutlichſte kraft und grundlage
unſerer ſprache aus.
Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu-
tende maſſe von wörtern zurück, die auf ihren ein-
fachen beſtandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch-
ſtaben entbunden, der vergleichenden unterſuchung wei-
ter keine verhältniſſe des lauts und ablauts darzubieten
ſcheinen. Sie nenne ich verwaiſte wurzeln. Nur nach
dürrer, unſicherer analogie laßen ſie ſich in die ablau-
tende conjugation einſtellen, während bei den unter B
angeführten wörtern einſtimmige verwandtſchaft mehrerer
glieder eines geſchlechts den ſchluß auf den untergegan-
genen ſtamm wahrſcheinlich machte.
Statt von ſolchen allein ſtehenden wörtern im all-
gemeinen unnöthige beiſpiele zu geben, will ich die
gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große
behutſamkeit anzuwenden rathen:
a) die regeren kurzen vocale a, i, u ſind ſchwieriger zu
faßen; außer den ſ. 6. angeführten formeln, welche
zweimahl verſchieden vorkommen können, haben uns
die vermuthlichen ſtarken verba noch folgende weitere
ergeben: ïl ſteht VIII und IX; um, un ſtehen IX und
XI. Zweifelhaft würde alſo z. b. ſein, ob das alth.
ſuan, altn. ſvanr (cignus) von ſvinan, ſvan oder von
ſvanan, ſvôn ſtamme? zweifelhaft, ob das goth. nati
(rete) der form natan, nôt oder nitan, nat, nêtun an-
gehöre? für jenes ließe ſich etwa nôta (puppis) her-
beiziehen, für letzteres mit mehr wahrſcheinlichkeit
alth. nëƷila, agſ. nëtele (urtica), aus der man faden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/82>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.