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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. laut u. ablaut. verwaiste wurzeln.
C. verwaiste wurzeln.

Von den der sprache verbliebenen starken verbis ist
eine ansehnliche zahl wortbildungen, welche sich ohne
zweifel noch sehr vermehren läßt, dargelegt wor-
den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe
von wörtern, die mir im verhältnisse des lauts und ab-
lauts zu stehen scheinen auf verlorene starke stämme
zurückzuführen gesucht. Was im einzelnen verfehlt
wurde mag sich aufheben gegen das richtige, welches
fortgesetzter forschung hinzuzufügen vorbehalten bleibt.
Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer-
den, daß aus den solchergestalt nachgewiesenen quellen
über siebenthalbhundert deutscher wurzeln eine unzahl
von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit
ströme. Sie machen die deutlichste kraft und grundlage
unserer sprache aus.

Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu-
tende masse von wörtern zurück, die auf ihren ein-
fachen bestandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch-
staben entbunden, der vergleichenden untersuchung wei-
ter keine verhältnisse des lauts und ablauts darzubieten
scheinen. Sie nenne ich verwaiste wurzeln. Nur nach
dürrer, unsicherer analogie laßen sie sich in die ablau-
tende conjugation einstellen, während bei den unter B
angeführten wörtern einstimmige verwandtschaft mehrerer
glieder eines geschlechts den schluß auf den untergegan-
genen stamm wahrscheinlich machte.

Statt von solchen allein stehenden wörtern im all-
gemeinen unnöthige beispiele zu geben, will ich die
gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große
behutsamkeit anzuwenden rathen:

a) die regeren kurzen vocale a, i, u sind schwieriger zu
faßen; außer den s. 6. angeführten formeln, welche
zweimahl verschieden vorkommen können, haben uns
die vermuthlichen starken verba noch folgende weitere
ergeben: il steht VIII und IX; um, un stehen IX und
XI. Zweifelhaft würde also z. b. sein, ob das alth.
suan, altn. svanr (cignus) von svinan, svan oder von
svanan, svon stamme? zweifelhaft, ob das goth. nati
(rete) der form natan, not oder nitan, nat, netun an-
gehöre? für jenes ließe sich etwa nota (puppis) her-
beiziehen, für letzteres mit mehr wahrscheinlichkeit
alth. neßila, ags. netele (urtica), aus der man faden
III. laut u. ablaut. verwaiſte wurzeln.
C. verwaiſte wurzeln.

Von den der ſprache verbliebenen ſtarken verbis iſt
eine anſehnliche zahl wortbildungen, welche ſich ohne
zweifel noch ſehr vermehren läßt, dargelegt wor-
den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe
von wörtern, die mir im verhältniſſe des lauts und ab-
lauts zu ſtehen ſcheinen auf verlorene ſtarke ſtämme
zurückzuführen geſucht. Was im einzelnen verfehlt
wurde mag ſich aufheben gegen das richtige, welches
fortgeſetzter forſchung hinzuzufügen vorbehalten bleibt.
Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer-
den, daß aus den ſolchergeſtalt nachgewieſenen quellen
über ſiebenthalbhundert deutſcher wurzeln eine unzahl
von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit
ſtröme. Sie machen die deutlichſte kraft und grundlage
unſerer ſprache aus.

Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu-
tende maſſe von wörtern zurück, die auf ihren ein-
fachen beſtandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch-
ſtaben entbunden, der vergleichenden unterſuchung wei-
ter keine verhältniſſe des lauts und ablauts darzubieten
ſcheinen. Sie nenne ich verwaiſte wurzeln. Nur nach
dürrer, unſicherer analogie laßen ſie ſich in die ablau-
tende conjugation einſtellen, während bei den unter B
angeführten wörtern einſtimmige verwandtſchaft mehrerer
glieder eines geſchlechts den ſchluß auf den untergegan-
genen ſtamm wahrſcheinlich machte.

Statt von ſolchen allein ſtehenden wörtern im all-
gemeinen unnöthige beiſpiele zu geben, will ich die
gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große
behutſamkeit anzuwenden rathen:

a) die regeren kurzen vocale a, i, u ſind ſchwieriger zu
faßen; außer den ſ. 6. angeführten formeln, welche
zweimahl verſchieden vorkommen können, haben uns
die vermuthlichen ſtarken verba noch folgende weitere
ergeben: ïl ſteht VIII und IX; um, un ſtehen IX und
XI. Zweifelhaft würde alſo z. b. ſein, ob das alth.
ſuan, altn. ſvanr (cignus) von ſvinan, ſvan oder von
ſvanan, ſvôn ſtamme? zweifelhaft, ob das goth. nati
(rete) der form natan, nôt oder nitan, nat, nêtun an-
gehöre? für jenes ließe ſich etwa nôta (puppis) her-
beiziehen, für letzteres mit mehr wahrſcheinlichkeit
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[64/0082] III. laut u. ablaut. verwaiſte wurzeln. C. verwaiſte wurzeln. Von den der ſprache verbliebenen ſtarken verbis iſt eine anſehnliche zahl wortbildungen, welche ſich ohne zweifel noch ſehr vermehren läßt, dargelegt wor- den. Sodann habe ich eine gleichfalls nicht geringe reihe von wörtern, die mir im verhältniſſe des lauts und ab- lauts zu ſtehen ſcheinen auf verlorene ſtarke ſtämme zurückzuführen geſucht. Was im einzelnen verfehlt wurde mag ſich aufheben gegen das richtige, welches fortgeſetzter forſchung hinzuzufügen vorbehalten bleibt. Im ganzen betrachtet kann immer angenommen wer- den, daß aus den ſolchergeſtalt nachgewieſenen quellen über ſiebenthalbhundert deutſcher wurzeln eine unzahl von wörtern aller art in größter fülle und fruchtbarkeit ſtröme. Sie machen die deutlichſte kraft und grundlage unſerer ſprache aus. Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeu- tende maſſe von wörtern zurück, die auf ihren ein- fachen beſtandtheil geführt, d. h. aller ableitungsbuch- ſtaben entbunden, der vergleichenden unterſuchung wei- ter keine verhältniſſe des lauts und ablauts darzubieten ſcheinen. Sie nenne ich verwaiſte wurzeln. Nur nach dürrer, unſicherer analogie laßen ſie ſich in die ablau- tende conjugation einſtellen, während bei den unter B angeführten wörtern einſtimmige verwandtſchaft mehrerer glieder eines geſchlechts den ſchluß auf den untergegan- genen ſtamm wahrſcheinlich machte. Statt von ſolchen allein ſtehenden wörtern im all- gemeinen unnöthige beiſpiele zu geben, will ich die gründe entwickeln, welche hier dem etymologen große behutſamkeit anzuwenden rathen: a) die regeren kurzen vocale a, i, u ſind ſchwieriger zu faßen; außer den ſ. 6. angeführten formeln, welche zweimahl verſchieden vorkommen können, haben uns die vermuthlichen ſtarken verba noch folgende weitere ergeben: ïl ſteht VIII und IX; um, un ſtehen IX und XI. Zweifelhaft würde alſo z. b. ſein, ob das alth. ſuan, altn. ſvanr (cignus) von ſvinan, ſvan oder von ſvanan, ſvôn ſtamme? zweifelhaft, ob das goth. nati (rete) der form natan, nôt oder nitan, nat, nêtun an- gehöre? für jenes ließe ſich etwa nôta (puppis) her- beiziehen, für letzteres mit mehr wahrſcheinlichkeit alth. nëƷila, agſ. nëtele (urtica), aus der man faden

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/82>, abgerufen am 24.11.2024.