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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. unflexivisches compositions-S.

1) bei den einfachen wörtern acht, hilfe und liebe:
achts-erklärung, achts-leute (Haltaus), achts-proceß;
hilfs-armee, hilfs-corps, hilfs-truppen, hilfs-völker; lie-
bes-abenteuer, liebes-apfel, liebes-brief, liebes-eifer, lie-
bes-flamme, liebes-geschichte, liebes-gott, liebes-mahl,
liebes-noth, liebes-pfeil, liebes-qual, liebes-regung, liebes-
zeichen. Im gemeinen leben hört man auch mieths-leute,
mieths-mann f. mieth-leute, mieth-mann, von dem fem.
miethe und frauens-leute, frauens-person (von frau) ist
in die schriftsprache aufgenommen worden.

2) bei den zusammengesetzten auf t auslautenden: an-
dacht, nothdurft, einfalt, -fahrt, geburt, geschichte (für
geschicht, 1, 700.), heirath, -nacht, -sicht, -schrift, -welt,
-zeit: andachts-übung, nothdurfts-fall, heiraths-gedanken,
einfalts-pinsel, wohlfahrts-ausschuß, rheinschiffahrts-com-
mission, himmelfahrts-tag, ausfahrts-tag, geburts-fest, ge-
burts-tag, geburts-stunde, geburts-wehen, geschichts-
freund, geschichts-erzählung, sommernachts-traum, weih-
nachts-abend, vorsichts-maßregel, rücksichts-los, vor-
schrifts-mäßig, allerwelts-narr, hochzeits-fest, -tag, -ge-
dicht, mahlzeits-stunde und einigen ähnlichen mehr. Auch
die scheinbaren composita arbeit und armuth gehören
hierher: arbeits-lust, armuths-plage (vgl. armuths halber);
gewöhnlich geht dem t noch ein andrer consonant vor-
aus, namentlich ch (früher h) und f, nur nach der ver-
bindung st unterbleibt der compositionsconsonant, z. b.
mis-gunst-zeichen. Die simplicia haben ihn ebensowenig,
z. b. nacht-zeit, schrift-mäßig, welt-kind, zeit-genoß.
Außerdem gibt es fem. auf -cht, -ft, die selbst zusam-
mengesetzt seiner entrathen, z. b. unzucht, ohnmacht, un-
kraft, mitgift, stickluft, vernunft, denn wir sagen: ver-
nunft-mäßig, vernunft-glaube, lebensluft-masse.

3) bei sämtlichen derivatis auf -ung und compositis
mit -heit, -schaft: z. b. nahrungs-sorge, hofnungs-voll,
hofnungs-los, gewohnheits-mensch, regierungs-rath, zei-
tungs-schreiber, freiheits-krieg, wahrheits-liebe, freund-
schafts-dienst, verwandtschafts-zeichen.

4) bei fremden sem. auf -ion und -tät: auctions-ca-
talog, conventions-geld, compositions-vocal, flexions-fä-
higkeit, passions-blume, legations-rath, sanitäts-collegium,
societäts-sachen, maturitäts-zeugnis, majestäts-verbrechen.

II) geschichte dieser anomalie. Da sich im mhd. keine
spur solcher zusammensetzungen findet, so fragt es sich,
wann sie zuerst aufgekommen sind?

III. unflexiviſches compoſitions-S.

1) bei den einfachen wörtern acht, hilfe und liebe:
achts-erklärung, achts-leute (Haltaus), achts-proceß;
hilfs-armee, hilfs-corps, hilfs-truppen, hilfs-völker; lie-
bes-abenteuer, liebes-apfel, liebes-brief, liebes-eifer, lie-
bes-flamme, liebes-geſchichte, liebes-gott, liebes-mahl,
liebes-noth, liebes-pfeil, liebes-qual, liebes-regung, liebes-
zeichen. Im gemeinen leben hört man auch mieths-leute,
mieths-mann f. mieth-leute, mieth-mann, von dem fem.
miethe und frauens-leute, frauens-perſon (von frau) iſt
in die ſchriftſprache aufgenommen worden.

2) bei den zuſammengeſetzten auf t auslautenden: an-
dacht, nothdurft, einfalt, -fahrt, geburt, geſchichte (für
geſchicht, 1, 700.), heirath, -nacht, -ſicht, -ſchrift, -welt,
-zeit: andachts-übung, nothdurfts-fall, heiraths-gedanken,
einfalts-pinſel, wohlfahrts-ausſchuß, rheinſchiffahrts-com-
miſſion, himmelfahrts-tag, ausfahrts-tag, geburts-feſt, ge-
burts-tag, geburts-ſtunde, geburts-wehen, geſchichts-
freund, geſchichts-erzählung, ſommernachts-traum, weih-
nachts-abend, vorſichts-maßregel, rückſichts-los, vor-
ſchrifts-mäßig, allerwelts-narr, hochzeits-feſt, -tag, -ge-
dicht, mahlzeits-ſtunde und einigen ähnlichen mehr. Auch
die ſcheinbaren compoſita arbeit und armuth gehören
hierher: arbeits-luſt, armuths-plage (vgl. armuths halber);
gewöhnlich geht dem t noch ein andrer conſonant vor-
aus, namentlich ch (früher h) und f, nur nach der ver-
bindung ſt unterbleibt der compoſitionsconſonant, z. b.
mis-gunſt-zeichen. Die ſimplicia haben ihn ebenſowenig,
z. b. nacht-zeit, ſchrift-mäßig, welt-kind, zeit-genoß.
Außerdem gibt es fem. auf -cht, -ft, die ſelbſt zuſam-
mengeſetzt ſeiner entrathen, z. b. unzucht, ohnmacht, un-
kraft, mitgift, ſtickluft, vernunft, denn wir ſagen: ver-
nunft-mäßig, vernunft-glaube, lebensluft-maſſe.

3) bei ſämtlichen derivatis auf -ung und compoſitis
mit -heit, -ſchaft: z. b. nahrungs-ſorge, hofnungs-voll,
hofnungs-los, gewohnheits-menſch, regierungs-rath, zei-
tungs-ſchreiber, freiheits-krieg, wahrheits-liebe, freund-
ſchafts-dienſt, verwandtſchafts-zeichen.

4) bei fremden ſem. auf -ion und -tät: auctions-ca-
talog, conventions-geld, compoſitions-vocal, flexions-fä-
higkeit, paſſions-blume, legations-rath, ſanitäts-collegium,
ſocietäts-ſachen, maturitäts-zeugnis, majeſtäts-verbrechen.

II) geſchichte dieſer anomalie. Da ſich im mhd. keine
ſpur ſolcher zuſammenſetzungen findet, ſo fragt es ſich,
wann ſie zuerſt aufgekommen ſind?

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[935/0953] III. unflexiviſches compoſitions-S. 1) bei den einfachen wörtern acht, hilfe und liebe: achts-erklärung, achts-leute (Haltaus), achts-proceß; hilfs-armee, hilfs-corps, hilfs-truppen, hilfs-völker; lie- bes-abenteuer, liebes-apfel, liebes-brief, liebes-eifer, lie- bes-flamme, liebes-geſchichte, liebes-gott, liebes-mahl, liebes-noth, liebes-pfeil, liebes-qual, liebes-regung, liebes- zeichen. Im gemeinen leben hört man auch mieths-leute, mieths-mann f. mieth-leute, mieth-mann, von dem fem. miethe und frauens-leute, frauens-perſon (von frau) iſt in die ſchriftſprache aufgenommen worden. 2) bei den zuſammengeſetzten auf t auslautenden: an- dacht, nothdurft, einfalt, -fahrt, geburt, geſchichte (für geſchicht, 1, 700.), heirath, -nacht, -ſicht, -ſchrift, -welt, -zeit: andachts-übung, nothdurfts-fall, heiraths-gedanken, einfalts-pinſel, wohlfahrts-ausſchuß, rheinſchiffahrts-com- miſſion, himmelfahrts-tag, ausfahrts-tag, geburts-feſt, ge- burts-tag, geburts-ſtunde, geburts-wehen, geſchichts- freund, geſchichts-erzählung, ſommernachts-traum, weih- nachts-abend, vorſichts-maßregel, rückſichts-los, vor- ſchrifts-mäßig, allerwelts-narr, hochzeits-feſt, -tag, -ge- dicht, mahlzeits-ſtunde und einigen ähnlichen mehr. Auch die ſcheinbaren compoſita arbeit und armuth gehören hierher: arbeits-luſt, armuths-plage (vgl. armuths halber); gewöhnlich geht dem t noch ein andrer conſonant vor- aus, namentlich ch (früher h) und f, nur nach der ver- bindung ſt unterbleibt der compoſitionsconſonant, z. b. mis-gunſt-zeichen. Die ſimplicia haben ihn ebenſowenig, z. b. nacht-zeit, ſchrift-mäßig, welt-kind, zeit-genoß. Außerdem gibt es fem. auf -cht, -ft, die ſelbſt zuſam- mengeſetzt ſeiner entrathen, z. b. unzucht, ohnmacht, un- kraft, mitgift, ſtickluft, vernunft, denn wir ſagen: ver- nunft-mäßig, vernunft-glaube, lebensluft-maſſe. 3) bei ſämtlichen derivatis auf -ung und compoſitis mit -heit, -ſchaft: z. b. nahrungs-ſorge, hofnungs-voll, hofnungs-los, gewohnheits-menſch, regierungs-rath, zei- tungs-ſchreiber, freiheits-krieg, wahrheits-liebe, freund- ſchafts-dienſt, verwandtſchafts-zeichen. 4) bei fremden ſem. auf -ion und -tät: auctions-ca- talog, conventions-geld, compoſitions-vocal, flexions-fä- higkeit, paſſions-blume, legations-rath, ſanitäts-collegium, ſocietäts-ſachen, maturitäts-zeugnis, majeſtäts-verbrechen. II) geſchichte dieſer anomalie. Da ſich im mhd. keine ſpur ſolcher zuſammenſetzungen findet, ſo fragt es ſich, wann ſie zuerſt aufgekommen ſind?

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 935. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/953>, abgerufen am 22.11.2024.