Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. unflexivisches compositions-S.
die naturconsequenz der alten fehlt. Zwei gesichtspuncte
leiteten, einmahl die vielsilbigkeit und schwere bewegung
des ersten worts, dann sein auslaut auf lingualtenuis, zu-
mahl wenn ihr noch ein andrer cons. vorausgeht. Man
sagte landungs-armee, landesschuldentilgungs-commission,
inquisitions-gericht, wahrheits-liebe, ritterschafts-aus-
schreiben, vorsichts-mittel, unterschrifts-prüfung und selbst
bei masc. unterrocks-futter, fingerhuts-büchschen (neben hut-
futteral); nicht aber königinns-krone, spitzbübins-streich,
naturs-beschreibung, partiturs-auszug, parteis-gänger,
arzneis-mittel, theologies-professor, harmonies-wirkung,
theils weil sich solche wörter gar nicht componieren (krone
der königin, prosessor der theologie, wirkung der harmonie)
theils in älteren compositis ohne -s gangbar waren (arznei-
mittel) theils weil der anstoß des liquiden auslauts an das
zweite wort hörbarer war (natur-lehre) als der des stumment
(wahrheit-tempel, himmelfahrt-tag) in den meisten fällen ge-
wesen wäre. Freilich hätte man auch ohnmachts-wesen,
unkrafts-weihe, mitgifts-verzeichnis, sticklufts-bereitung
sagen dürfen, wenn hier analogie gälte. Noch weniger
gilt sie von den einzelnen einsilbigen fem. (I, 1.) auf an-
dere ähnliche, z. b. treus-bruch, salbs-mittel, strafs-ver-
fügung statt treu-bruch, salb-mittel, straf-verf., obwohl
sie dem liebes-bruch, hilfs-mittel, achts-erklärung glichen.

IV) resultat.

1) das unflexivische -s entspricht in bestimmten, kei-
ner ausdehnung fähigen fällen dem alten längst vergang-
nen compositionsvocal. Bei der vermischung und berüh-
rung eigentlicher mit uneigentlicher zusammensetzung
(s. 612-615.) ist aber zu erwarten, daß es auch zuweilen
uneigentliche comp. ersetzt, folglich dem genitivischen -s
der masc. und neutr. zur seite steht. Ein beispiel ist
frauens-leute verglichen mit manns-leute und man darf
freilich hofnungs-los, -voll, regierungs-rath so gut mit
den uneigentlichen freuden-los, kriegs-rath, staats-rath
zusammenhalten, als mit den eigentlichen blut-los, rath-
los, hof-rath. Aber auch da, wo das -s genitivische
kraft hat, verdient es, weil ihm keine organische weib-
liche flexion zu grund liegt, unflexivisch zu heißen.

2) ich will nicht leugnen, daß es etwas barbarisches
an sich habe. Daher es auch Luthers reinem, edlem
deutsch fremd blieb, zu dessen zeit die geschäftsleute ein
erstes ungs- nnd ions- gewagt haben mögen. Selbst bei
unsern heutigen dichtern wird man nur selten auf die
unter I, 2-4. genannten unflexivischen -s stoßen. Sogar

III. unflexiviſches compoſitions-S.
die naturconſequenz der alten fehlt. Zwei geſichtspuncte
leiteten, einmahl die vielſilbigkeit und ſchwere bewegung
des erſten worts, dann ſein auslaut auf lingualtenuis, zu-
mahl wenn ihr noch ein andrer conſ. vorausgeht. Man
ſagte landungs-armee, landesſchuldentilgungs-commiſſion,
inquiſitions-gericht, wahrheits-liebe, ritterſchafts-aus-
ſchreiben, vorſichts-mittel, unterſchrifts-prüfung und ſelbſt
bei maſc. unterrocks-futter, fingerhuts-büchschen (neben hut-
futteral); nicht aber königinns-krone, ſpitzbübins-ſtreich,
naturs-beſchreibung, partiturs-auszug, parteis-gänger,
arzneis-mittel, theologies-profeſſor, harmonies-wirkung,
theils weil ſich ſolche wörter gar nicht componieren (krone
der königin, proſeſſor der theologie, wirkung der harmonie)
theils in älteren compoſitis ohne -s gangbar waren (arznei-
mittel) theils weil der anſtoß des liquiden auslauts an das
zweite wort hörbarer war (natur-lehre) als der des ſtumment
(wahrheit-tempel, himmelfahrt-tag) in den meiſten fällen ge-
weſen wäre. Freilich hätte man auch ohnmachts-weſen,
unkrafts-weihe, mitgifts-verzeichnis, ſticklufts-bereitung
ſagen dürfen, wenn hier analogie gälte. Noch weniger
gilt ſie von den einzelnen einſilbigen fem. (I, 1.) auf an-
dere ähnliche, z. b. treus-bruch, ſalbs-mittel, ſtrafs-ver-
fügung ſtatt treu-bruch, ſalb-mittel, ſtraf-verf., obwohl
ſie dem liebes-bruch, hilfs-mittel, achts-erklärung glichen.

IV) reſultat.

1) das unflexiviſche -s entſpricht in beſtimmten, kei-
ner ausdehnung fähigen fällen dem alten längſt vergang-
nen compoſitionsvocal. Bei der vermiſchung und berüh-
rung eigentlicher mit uneigentlicher zuſammenſetzung
(ſ. 612-615.) iſt aber zu erwarten, daß es auch zuweilen
uneigentliche comp. erſetzt, folglich dem genitiviſchen -s
der maſc. und neutr. zur ſeite ſteht. Ein beiſpiel iſt
frauens-leute verglichen mit manns-leute und man darf
freilich hofnungs-los, -voll, regierungs-rath ſo gut mit
den uneigentlichen freuden-los, kriegs-rath, ſtaats-rath
zuſammenhalten, als mit den eigentlichen blut-los, rath-
los, hof-rath. Aber auch da, wo das -s genitiviſche
kraft hat, verdient es, weil ihm keine organiſche weib-
liche flexion zu grund liegt, unflexiviſch zu heißen.

2) ich will nicht leugnen, daß es etwas barbariſches
an ſich habe. Daher es auch Luthers reinem, edlem
deutſch fremd blieb, zu deſſen zeit die geſchäftsleute ein
erſtes ungs- nnd ions- gewagt haben mögen. Selbſt bei
unſern heutigen dichtern wird man nur ſelten auf die
unter I, 2-4. genannten unflexiviſchen -s ſtoßen. Sogar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0959" n="941"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">unflexivi&#x017F;ches compo&#x017F;itions-S.</hi></hi></fw><lb/>
die naturcon&#x017F;equenz der alten fehlt. Zwei ge&#x017F;ichtspuncte<lb/>
leiteten, einmahl die viel&#x017F;ilbigkeit und &#x017F;chwere bewegung<lb/>
des er&#x017F;ten worts, dann &#x017F;ein auslaut auf lingualtenuis, zu-<lb/>
mahl wenn ihr noch ein andrer con&#x017F;. vorausgeht. Man<lb/>
&#x017F;agte landungs-armee, landes&#x017F;chuldentilgungs-commi&#x017F;&#x017F;ion,<lb/>
inqui&#x017F;itions-gericht, wahrheits-liebe, ritter&#x017F;chafts-aus-<lb/>
&#x017F;chreiben, vor&#x017F;ichts-mittel, unter&#x017F;chrifts-prüfung und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bei ma&#x017F;c. unterrocks-futter, fingerhuts-büchschen (neben hut-<lb/>
futteral); nicht aber königinns-krone, &#x017F;pitzbübins-&#x017F;treich,<lb/>
naturs-be&#x017F;chreibung, partiturs-auszug, parteis-gänger,<lb/>
arzneis-mittel, theologies-profe&#x017F;&#x017F;or, harmonies-wirkung,<lb/>
theils weil &#x017F;ich &#x017F;olche wörter gar nicht componieren (krone<lb/>
der königin, pro&#x017F;e&#x017F;&#x017F;or der theologie, wirkung der harmonie)<lb/>
theils in älteren compo&#x017F;itis ohne -s gangbar waren (arznei-<lb/>
mittel) theils weil der an&#x017F;toß des liquiden auslauts an das<lb/>
zweite wort hörbarer war (natur-lehre) als der des &#x017F;tumment<lb/>
(wahrheit-tempel, himmelfahrt-tag) in den mei&#x017F;ten fällen ge-<lb/>
we&#x017F;en wäre. Freilich hätte man auch ohnmachts-we&#x017F;en,<lb/>
unkrafts-weihe, mitgifts-verzeichnis, &#x017F;ticklufts-bereitung<lb/>
&#x017F;agen dürfen, wenn hier analogie gälte. Noch weniger<lb/>
gilt &#x017F;ie von den einzelnen ein&#x017F;ilbigen fem. (I, 1.) auf an-<lb/>
dere ähnliche, z. b. treus-bruch, &#x017F;albs-mittel, &#x017F;trafs-ver-<lb/>
fügung &#x017F;tatt treu-bruch, &#x017F;alb-mittel, &#x017F;traf-verf., obwohl<lb/>
&#x017F;ie dem liebes-bruch, hilfs-mittel, achts-erklärung glichen.</p><lb/>
            <p>IV) re&#x017F;ultat.</p><lb/>
            <p>1) das unflexivi&#x017F;che -s ent&#x017F;pricht in be&#x017F;timmten, kei-<lb/>
ner ausdehnung fähigen fällen dem alten läng&#x017F;t vergang-<lb/>
nen compo&#x017F;itionsvocal. Bei der vermi&#x017F;chung und berüh-<lb/>
rung eigentlicher mit uneigentlicher zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung<lb/>
(&#x017F;. 612-615.) i&#x017F;t aber zu erwarten, daß es auch zuweilen<lb/>
uneigentliche comp. er&#x017F;etzt, folglich dem genitivi&#x017F;chen -s<lb/>
der ma&#x017F;c. und neutr. zur &#x017F;eite &#x017F;teht. Ein bei&#x017F;piel i&#x017F;t<lb/>
frauens-leute verglichen mit manns-leute und man darf<lb/>
freilich hofnungs-los, -voll, regierungs-rath &#x017F;o gut mit<lb/>
den uneigentlichen freuden-los, kriegs-rath, &#x017F;taats-rath<lb/>
zu&#x017F;ammenhalten, als mit den eigentlichen blut-los, rath-<lb/>
los, hof-rath. Aber auch da, wo das -s genitivi&#x017F;che<lb/>
kraft hat, verdient es, weil ihm keine organi&#x017F;che weib-<lb/>
liche flexion zu grund liegt, unflexivi&#x017F;ch zu heißen.</p><lb/>
            <p>2) ich will nicht leugnen, daß es etwas barbari&#x017F;ches<lb/>
an &#x017F;ich habe. Daher es auch Luthers reinem, edlem<lb/>
deut&#x017F;ch fremd blieb, zu de&#x017F;&#x017F;en zeit die ge&#x017F;chäftsleute ein<lb/>
er&#x017F;tes ungs- nnd ions- gewagt haben mögen. Selb&#x017F;t bei<lb/>
un&#x017F;ern heutigen dichtern wird man nur &#x017F;elten auf die<lb/>
unter I, 2-4. genannten unflexivi&#x017F;chen -s &#x017F;toßen. Sogar<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[941/0959] III. unflexiviſches compoſitions-S. die naturconſequenz der alten fehlt. Zwei geſichtspuncte leiteten, einmahl die vielſilbigkeit und ſchwere bewegung des erſten worts, dann ſein auslaut auf lingualtenuis, zu- mahl wenn ihr noch ein andrer conſ. vorausgeht. Man ſagte landungs-armee, landesſchuldentilgungs-commiſſion, inquiſitions-gericht, wahrheits-liebe, ritterſchafts-aus- ſchreiben, vorſichts-mittel, unterſchrifts-prüfung und ſelbſt bei maſc. unterrocks-futter, fingerhuts-büchschen (neben hut- futteral); nicht aber königinns-krone, ſpitzbübins-ſtreich, naturs-beſchreibung, partiturs-auszug, parteis-gänger, arzneis-mittel, theologies-profeſſor, harmonies-wirkung, theils weil ſich ſolche wörter gar nicht componieren (krone der königin, proſeſſor der theologie, wirkung der harmonie) theils in älteren compoſitis ohne -s gangbar waren (arznei- mittel) theils weil der anſtoß des liquiden auslauts an das zweite wort hörbarer war (natur-lehre) als der des ſtumment (wahrheit-tempel, himmelfahrt-tag) in den meiſten fällen ge- weſen wäre. Freilich hätte man auch ohnmachts-weſen, unkrafts-weihe, mitgifts-verzeichnis, ſticklufts-bereitung ſagen dürfen, wenn hier analogie gälte. Noch weniger gilt ſie von den einzelnen einſilbigen fem. (I, 1.) auf an- dere ähnliche, z. b. treus-bruch, ſalbs-mittel, ſtrafs-ver- fügung ſtatt treu-bruch, ſalb-mittel, ſtraf-verf., obwohl ſie dem liebes-bruch, hilfs-mittel, achts-erklärung glichen. IV) reſultat. 1) das unflexiviſche -s entſpricht in beſtimmten, kei- ner ausdehnung fähigen fällen dem alten längſt vergang- nen compoſitionsvocal. Bei der vermiſchung und berüh- rung eigentlicher mit uneigentlicher zuſammenſetzung (ſ. 612-615.) iſt aber zu erwarten, daß es auch zuweilen uneigentliche comp. erſetzt, folglich dem genitiviſchen -s der maſc. und neutr. zur ſeite ſteht. Ein beiſpiel iſt frauens-leute verglichen mit manns-leute und man darf freilich hofnungs-los, -voll, regierungs-rath ſo gut mit den uneigentlichen freuden-los, kriegs-rath, ſtaats-rath zuſammenhalten, als mit den eigentlichen blut-los, rath- los, hof-rath. Aber auch da, wo das -s genitiviſche kraft hat, verdient es, weil ihm keine organiſche weib- liche flexion zu grund liegt, unflexiviſch zu heißen. 2) ich will nicht leugnen, daß es etwas barbariſches an ſich habe. Daher es auch Luthers reinem, edlem deutſch fremd blieb, zu deſſen zeit die geſchäftsleute ein erſtes ungs- nnd ions- gewagt haben mögen. Selbſt bei unſern heutigen dichtern wird man nur ſelten auf die unter I, 2-4. genannten unflexiviſchen -s ſtoßen. Sogar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/959
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 941. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/959>, abgerufen am 22.11.2024.