Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ten nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und gewaltig. Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand noch leer und uneingerichtet da; es hatte vor ihm Niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr durcheinander. Sein Bedienter erwartete ihn; er schickte ihn zu Bett und dachte selbst nicht an Schlafen. Er fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort mit den Augen ein Wort fest, das ihn lockte, und ließ es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam standen die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie unauflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen zu gewinnen. Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, an Albert's Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu denken. Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter in den Wegen lagen, während die grünen noch an den Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn- ten nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und gewaltig. Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand noch leer und uneingerichtet da; es hatte vor ihm Niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr durcheinander. Sein Bedienter erwartete ihn; er schickte ihn zu Bett und dachte selbst nicht an Schlafen. Er fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort mit den Augen ein Wort fest, das ihn lockte, und ließ es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam standen die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie unauflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen zu gewinnen. Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, an Albert's Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu denken. Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter in den Wegen lagen, während die grünen noch an den Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0043"/> ten nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und gewaltig.</p><lb/> <p>Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand noch leer und uneingerichtet da; es hatte vor ihm Niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr durcheinander. Sein Bedienter erwartete ihn; er schickte ihn zu Bett und dachte selbst nicht an Schlafen. Er fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort mit den Augen ein Wort fest, das ihn lockte, und ließ es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam standen die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie unauflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen zu gewinnen.</p><lb/> <p>Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, an Albert's Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu denken.</p><lb/> <p>Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter in den Wegen lagen, während die grünen noch an den Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
ten nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und gewaltig.
Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand noch leer und uneingerichtet da; es hatte vor ihm Niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr durcheinander. Sein Bedienter erwartete ihn; er schickte ihn zu Bett und dachte selbst nicht an Schlafen. Er fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort mit den Augen ein Wort fest, das ihn lockte, und ließ es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam standen die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie unauflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen zu gewinnen.
Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, an Albert's Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu denken.
Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter in den Wegen lagen, während die grünen noch an den Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn-
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