Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu machen, die unter uns von nun an die einzige sein wird. Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augenblicklicher Besorgung. Und Alles das ward mit einer Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen Art auf das Heftigste contrastirte. Seit Jahren war ihm das Blut so nicht durch die Adern geflogen, niemals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmerfüllten Walde. Da tönte es leise: du bist im Unrecht, du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild des Krämers durch den Kopf und die Scene des Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach. Und wenn es ein Unrecht ist, rief er aus und sprang vom Sessel auf, er soll nicht sagen, daß er sie mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will es einlösen! Unmöglich schien es ihm, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor Kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding, nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, welcher dem das Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man vermißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre erwachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize, die sie früher nie besessen; er wollte sie über- werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu machen, die unter uns von nun an die einzige sein wird. Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augenblicklicher Besorgung. Und Alles das ward mit einer Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen Art auf das Heftigste contrastirte. Seit Jahren war ihm das Blut so nicht durch die Adern geflogen, niemals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmerfüllten Walde. Da tönte es leise: du bist im Unrecht, du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild des Krämers durch den Kopf und die Scene des Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach. Und wenn es ein Unrecht ist, rief er aus und sprang vom Sessel auf, er soll nicht sagen, daß er sie mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will es einlösen! Unmöglich schien es ihm, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor Kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding, nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, welcher dem das Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man vermißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre erwachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize, die sie früher nie besessen; er wollte sie über- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0066"/> werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu machen, die unter uns von nun an die einzige sein wird.</p><lb/> <p>Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augenblicklicher Besorgung. Und Alles das ward mit einer Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen Art auf das Heftigste contrastirte. Seit Jahren war ihm das Blut so nicht durch die Adern geflogen, niemals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmerfüllten Walde. Da tönte es leise: du bist im Unrecht, du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild des Krämers durch den Kopf und die Scene des Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach.</p><lb/> <p>Und wenn es ein Unrecht ist, rief er aus und sprang vom Sessel auf, er soll nicht sagen, daß er sie mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will es einlösen! Unmöglich schien es ihm, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor Kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding, nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, welcher dem das Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man vermißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre erwachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize, die sie früher nie besessen; er wollte sie über-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0066]
werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu machen, die unter uns von nun an die einzige sein wird.
Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augenblicklicher Besorgung. Und Alles das ward mit einer Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen Art auf das Heftigste contrastirte. Seit Jahren war ihm das Blut so nicht durch die Adern geflogen, niemals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmerfüllten Walde. Da tönte es leise: du bist im Unrecht, du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild des Krämers durch den Kopf und die Scene des Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach.
Und wenn es ein Unrecht ist, rief er aus und sprang vom Sessel auf, er soll nicht sagen, daß er sie mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will es einlösen! Unmöglich schien es ihm, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor Kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding, nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, welcher dem das Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man vermißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre erwachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize, die sie früher nie besessen; er wollte sie über-
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/66>, abgerufen am 17.07.2024. |