Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.winden, lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht. So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen. Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine Art war, sondern trat an den Tisch, auf dem allerlei ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Dabei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich zuletzt auf einen Stuhl setzte, dessen Rücken er von der Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ. Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hinauf gingst? fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefunden haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgültigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verletzt ward, kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute, die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den angenehmen Vorfällen des Lebens gehört und winden, lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht. So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen. Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine Art war, sondern trat an den Tisch, auf dem allerlei ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Dabei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich zuletzt auf einen Stuhl setzte, dessen Rücken er von der Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ. Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hinauf gingst? fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefunden haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgültigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verletzt ward, kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute, die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den angenehmen Vorfällen des Lebens gehört und <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0067"/> winden, lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht.</p><lb/> <p>So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen. Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine Art war, sondern trat an den Tisch, auf dem allerlei ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Dabei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich zuletzt auf einen Stuhl setzte, dessen Rücken er von der Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ.</p><lb/> <p>Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hinauf gingst? fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefunden haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgültigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verletzt ward, kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute, die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den angenehmen Vorfällen des Lebens gehört und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
winden, lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht.
So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen. Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine Art war, sondern trat an den Tisch, auf dem allerlei ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Dabei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich zuletzt auf einen Stuhl setzte, dessen Rücken er von der Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ.
Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hinauf gingst? fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefunden haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgültigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verletzt ward, kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute, die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den angenehmen Vorfällen des Lebens gehört und
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/67>, abgerufen am 17.07.2024. |