Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Abend wurde, da kam sie zu des Königs Gar-
ten. In der Gartenhecke war eine Lücke, durch
die ging sie hinein, fand einen Obstbaum, den
schüttelte sie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel
zur Erde fielen, bückte sie sich nieder und hob
sie mit ihren Zähnen auf und aß sie. Zwei
Tage lebte sie so, am dritten aber kamen die
Wächter des Gartens, die sahen sie, nahmen sie
gefangen und warfen sie ins Gefangenhaus,
des andern Morgens wurde sie vor den König
geführt, und sollte Landes verwiesen werden.
Ei, sprach der Königssohn, sie kann ja lieber
die Hüner auf dem Hof hüten!

So blieb sie eine Zeitlang da und hütete
die Hüner, der Königssohn aber sah sie oft
und gewann sie von Herzen lieb; mittlerweile
kam nun die Zeit, daß er sich vermählen sollte.
Da wurde ausgeschickt in alle weite Welt, um
ihm eine schöne Gemahlin auszusuchen. "Ihr
braucht nicht weit zu suchen und zu senden,
sprach er, ich weiß mir eine ganz in der Nä-
he." Der alte König besann sich hin und her
und es war ihm keine Jungfrau im Land be-
kannt, die schön und reich wäre: "du wirst
doch nicht etwa gar die da wollen heirathen,
die die Hüner im Hofe hütet?" Der Sohn
aber erklärte, er würde nimmermehr eine andere
nehmen, da mußte es endlich der König zuge-
ben, und bald darauf starb er; der Königssohn

Abend wurde, da kam ſie zu des Koͤnigs Gar-
ten. In der Gartenhecke war eine Luͤcke, durch
die ging ſie hinein, fand einen Obſtbaum, den
ſchuͤttelte ſie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel
zur Erde fielen, buͤckte ſie ſich nieder und hob
ſie mit ihren Zaͤhnen auf und aß ſie. Zwei
Tage lebte ſie ſo, am dritten aber kamen die
Waͤchter des Gartens, die ſahen ſie, nahmen ſie
gefangen und warfen ſie ins Gefangenhaus,
des andern Morgens wurde ſie vor den Koͤnig
gefuͤhrt, und ſollte Landes verwieſen werden.
Ei, ſprach der Koͤnigsſohn, ſie kann ja lieber
die Huͤner auf dem Hof huͤten!

So blieb ſie eine Zeitlang da und huͤtete
die Huͤner, der Koͤnigsſohn aber ſah ſie oft
und gewann ſie von Herzen lieb; mittlerweile
kam nun die Zeit, daß er ſich vermaͤhlen ſollte.
Da wurde ausgeſchickt in alle weite Welt, um
ihm eine ſchoͤne Gemahlin auszuſuchen. „Ihr
braucht nicht weit zu ſuchen und zu ſenden,
ſprach er, ich weiß mir eine ganz in der Naͤ-
he.“ Der alte Koͤnig beſann ſich hin und her
und es war ihm keine Jungfrau im Land be-
kannt, die ſchoͤn und reich waͤre: „du wirſt
doch nicht etwa gar die da wollen heirathen,
die die Huͤner im Hofe huͤtet?“ Der Sohn
aber erklaͤrte, er wuͤrde nimmermehr eine andere
nehmen, da mußte es endlich der Koͤnig zuge-
ben, und bald darauf ſtarb er; der Koͤnigsſohn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0169" n="135"/>
Abend wurde, da kam &#x017F;ie zu des Ko&#x0364;nigs Gar-<lb/>
ten. In der Gartenhecke war eine Lu&#x0364;cke, durch<lb/>
die ging &#x017F;ie hinein, fand einen Ob&#x017F;tbaum, den<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;ttelte &#x017F;ie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel<lb/>
zur Erde fielen, bu&#x0364;ckte &#x017F;ie &#x017F;ich nieder und hob<lb/>
&#x017F;ie mit ihren Za&#x0364;hnen auf und aß &#x017F;ie. Zwei<lb/>
Tage lebte &#x017F;ie &#x017F;o, am dritten aber kamen die<lb/>
Wa&#x0364;chter des Gartens, die &#x017F;ahen &#x017F;ie, nahmen &#x017F;ie<lb/>
gefangen und warfen &#x017F;ie ins Gefangenhaus,<lb/>
des andern Morgens wurde &#x017F;ie vor den Ko&#x0364;nig<lb/>
gefu&#x0364;hrt, und &#x017F;ollte Landes verwie&#x017F;en werden.<lb/>
Ei, &#x017F;prach der Ko&#x0364;nigs&#x017F;ohn, &#x017F;ie kann ja lieber<lb/>
die Hu&#x0364;ner auf dem Hof hu&#x0364;ten!</p><lb/>
        <p>So blieb &#x017F;ie eine Zeitlang da und hu&#x0364;tete<lb/>
die Hu&#x0364;ner, der Ko&#x0364;nigs&#x017F;ohn aber &#x017F;ah &#x017F;ie oft<lb/>
und gewann &#x017F;ie von Herzen lieb; mittlerweile<lb/>
kam nun die Zeit, daß er &#x017F;ich verma&#x0364;hlen &#x017F;ollte.<lb/>
Da wurde ausge&#x017F;chickt in alle weite Welt, um<lb/>
ihm eine &#x017F;cho&#x0364;ne Gemahlin auszu&#x017F;uchen. &#x201E;Ihr<lb/>
braucht nicht weit zu &#x017F;uchen und zu &#x017F;enden,<lb/>
&#x017F;prach er, ich weiß mir eine ganz in der Na&#x0364;-<lb/>
he.&#x201C; Der alte Ko&#x0364;nig be&#x017F;ann &#x017F;ich hin und her<lb/>
und es war ihm keine Jungfrau im Land be-<lb/>
kannt, die &#x017F;cho&#x0364;n und reich wa&#x0364;re: &#x201E;du wir&#x017F;t<lb/>
doch nicht etwa gar die da wollen heirathen,<lb/>
die die Hu&#x0364;ner im Hofe hu&#x0364;tet?&#x201C; Der Sohn<lb/>
aber erkla&#x0364;rte, er wu&#x0364;rde nimmermehr eine andere<lb/>
nehmen, da mußte es endlich der Ko&#x0364;nig zuge-<lb/>
ben, und bald darauf &#x017F;tarb er; der Ko&#x0364;nigs&#x017F;ohn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0169] Abend wurde, da kam ſie zu des Koͤnigs Gar- ten. In der Gartenhecke war eine Luͤcke, durch die ging ſie hinein, fand einen Obſtbaum, den ſchuͤttelte ſie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel zur Erde fielen, buͤckte ſie ſich nieder und hob ſie mit ihren Zaͤhnen auf und aß ſie. Zwei Tage lebte ſie ſo, am dritten aber kamen die Waͤchter des Gartens, die ſahen ſie, nahmen ſie gefangen und warfen ſie ins Gefangenhaus, des andern Morgens wurde ſie vor den Koͤnig gefuͤhrt, und ſollte Landes verwieſen werden. Ei, ſprach der Koͤnigsſohn, ſie kann ja lieber die Huͤner auf dem Hof huͤten! So blieb ſie eine Zeitlang da und huͤtete die Huͤner, der Koͤnigsſohn aber ſah ſie oft und gewann ſie von Herzen lieb; mittlerweile kam nun die Zeit, daß er ſich vermaͤhlen ſollte. Da wurde ausgeſchickt in alle weite Welt, um ihm eine ſchoͤne Gemahlin auszuſuchen. „Ihr braucht nicht weit zu ſuchen und zu ſenden, ſprach er, ich weiß mir eine ganz in der Naͤ- he.“ Der alte Koͤnig beſann ſich hin und her und es war ihm keine Jungfrau im Land be- kannt, die ſchoͤn und reich waͤre: „du wirſt doch nicht etwa gar die da wollen heirathen, die die Huͤner im Hofe huͤtet?“ Der Sohn aber erklaͤrte, er wuͤrde nimmermehr eine andere nehmen, da mußte es endlich der Koͤnig zuge- ben, und bald darauf ſtarb er; der Koͤnigsſohn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/169
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/169>, abgerufen am 17.05.2024.