Abend wurde, da kam sie zu des Königs Gar- ten. In der Gartenhecke war eine Lücke, durch die ging sie hinein, fand einen Obstbaum, den schüttelte sie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel zur Erde fielen, bückte sie sich nieder und hob sie mit ihren Zähnen auf und aß sie. Zwei Tage lebte sie so, am dritten aber kamen die Wächter des Gartens, die sahen sie, nahmen sie gefangen und warfen sie ins Gefangenhaus, des andern Morgens wurde sie vor den König geführt, und sollte Landes verwiesen werden. Ei, sprach der Königssohn, sie kann ja lieber die Hüner auf dem Hof hüten!
So blieb sie eine Zeitlang da und hütete die Hüner, der Königssohn aber sah sie oft und gewann sie von Herzen lieb; mittlerweile kam nun die Zeit, daß er sich vermählen sollte. Da wurde ausgeschickt in alle weite Welt, um ihm eine schöne Gemahlin auszusuchen. "Ihr braucht nicht weit zu suchen und zu senden, sprach er, ich weiß mir eine ganz in der Nä- he." Der alte König besann sich hin und her und es war ihm keine Jungfrau im Land be- kannt, die schön und reich wäre: "du wirst doch nicht etwa gar die da wollen heirathen, die die Hüner im Hofe hütet?" Der Sohn aber erklärte, er würde nimmermehr eine andere nehmen, da mußte es endlich der König zuge- ben, und bald darauf starb er; der Königssohn
Abend wurde, da kam ſie zu des Koͤnigs Gar- ten. In der Gartenhecke war eine Luͤcke, durch die ging ſie hinein, fand einen Obſtbaum, den ſchuͤttelte ſie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel zur Erde fielen, buͤckte ſie ſich nieder und hob ſie mit ihren Zaͤhnen auf und aß ſie. Zwei Tage lebte ſie ſo, am dritten aber kamen die Waͤchter des Gartens, die ſahen ſie, nahmen ſie gefangen und warfen ſie ins Gefangenhaus, des andern Morgens wurde ſie vor den Koͤnig gefuͤhrt, und ſollte Landes verwieſen werden. Ei, ſprach der Koͤnigsſohn, ſie kann ja lieber die Huͤner auf dem Hof huͤten!
So blieb ſie eine Zeitlang da und huͤtete die Huͤner, der Koͤnigsſohn aber ſah ſie oft und gewann ſie von Herzen lieb; mittlerweile kam nun die Zeit, daß er ſich vermaͤhlen ſollte. Da wurde ausgeſchickt in alle weite Welt, um ihm eine ſchoͤne Gemahlin auszuſuchen. „Ihr braucht nicht weit zu ſuchen und zu ſenden, ſprach er, ich weiß mir eine ganz in der Naͤ- he.“ Der alte Koͤnig beſann ſich hin und her und es war ihm keine Jungfrau im Land be- kannt, die ſchoͤn und reich waͤre: „du wirſt doch nicht etwa gar die da wollen heirathen, die die Huͤner im Hofe huͤtet?“ Der Sohn aber erklaͤrte, er wuͤrde nimmermehr eine andere nehmen, da mußte es endlich der Koͤnig zuge- ben, und bald darauf ſtarb er; der Koͤnigsſohn
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0169"n="135"/>
Abend wurde, da kam ſie zu des Koͤnigs Gar-<lb/>
ten. In der Gartenhecke war eine Luͤcke, durch<lb/>
die ging ſie hinein, fand einen Obſtbaum, den<lb/>ſchuͤttelte ſie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel<lb/>
zur Erde fielen, buͤckte ſie ſich nieder und hob<lb/>ſie mit ihren Zaͤhnen auf und aß ſie. Zwei<lb/>
Tage lebte ſie ſo, am dritten aber kamen die<lb/>
Waͤchter des Gartens, die ſahen ſie, nahmen ſie<lb/>
gefangen und warfen ſie ins Gefangenhaus,<lb/>
des andern Morgens wurde ſie vor den Koͤnig<lb/>
gefuͤhrt, und ſollte Landes verwieſen werden.<lb/>
Ei, ſprach der Koͤnigsſohn, ſie kann ja lieber<lb/>
die Huͤner auf dem Hof huͤten!</p><lb/><p>So blieb ſie eine Zeitlang da und huͤtete<lb/>
die Huͤner, der Koͤnigsſohn aber ſah ſie oft<lb/>
und gewann ſie von Herzen lieb; mittlerweile<lb/>
kam nun die Zeit, daß er ſich vermaͤhlen ſollte.<lb/>
Da wurde ausgeſchickt in alle weite Welt, um<lb/>
ihm eine ſchoͤne Gemahlin auszuſuchen. „Ihr<lb/>
braucht nicht weit zu ſuchen und zu ſenden,<lb/>ſprach er, ich weiß mir eine ganz in der Naͤ-<lb/>
he.“ Der alte Koͤnig beſann ſich hin und her<lb/>
und es war ihm keine Jungfrau im Land be-<lb/>
kannt, die ſchoͤn und reich waͤre: „du wirſt<lb/>
doch nicht etwa gar die da wollen heirathen,<lb/>
die die Huͤner im Hofe huͤtet?“ Der Sohn<lb/>
aber erklaͤrte, er wuͤrde nimmermehr eine andere<lb/>
nehmen, da mußte es endlich der Koͤnig zuge-<lb/>
ben, und bald darauf ſtarb er; der Koͤnigsſohn<lb/></p></div></body></text></TEI>
[135/0169]
Abend wurde, da kam ſie zu des Koͤnigs Gar-
ten. In der Gartenhecke war eine Luͤcke, durch
die ging ſie hinein, fand einen Obſtbaum, den
ſchuͤttelte ſie mit ihrem Leib, und wie die Aepfel
zur Erde fielen, buͤckte ſie ſich nieder und hob
ſie mit ihren Zaͤhnen auf und aß ſie. Zwei
Tage lebte ſie ſo, am dritten aber kamen die
Waͤchter des Gartens, die ſahen ſie, nahmen ſie
gefangen und warfen ſie ins Gefangenhaus,
des andern Morgens wurde ſie vor den Koͤnig
gefuͤhrt, und ſollte Landes verwieſen werden.
Ei, ſprach der Koͤnigsſohn, ſie kann ja lieber
die Huͤner auf dem Hof huͤten!
So blieb ſie eine Zeitlang da und huͤtete
die Huͤner, der Koͤnigsſohn aber ſah ſie oft
und gewann ſie von Herzen lieb; mittlerweile
kam nun die Zeit, daß er ſich vermaͤhlen ſollte.
Da wurde ausgeſchickt in alle weite Welt, um
ihm eine ſchoͤne Gemahlin auszuſuchen. „Ihr
braucht nicht weit zu ſuchen und zu ſenden,
ſprach er, ich weiß mir eine ganz in der Naͤ-
he.“ Der alte Koͤnig beſann ſich hin und her
und es war ihm keine Jungfrau im Land be-
kannt, die ſchoͤn und reich waͤre: „du wirſt
doch nicht etwa gar die da wollen heirathen,
die die Huͤner im Hofe huͤtet?“ Der Sohn
aber erklaͤrte, er wuͤrde nimmermehr eine andere
nehmen, da mußte es endlich der Koͤnig zuge-
ben, und bald darauf ſtarb er; der Koͤnigsſohn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/169>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.