Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Zuthun der Menschen. Darin bewährt sich
jede ächte Poesie, daß sie niemals ohne Be-
ziehung auf das Leben seyn kann, denn sie
ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm
zurück, wie die Wolken zu ihrer Geburts-
stätte, nachdem sie die Erde getränkt haben.

So erscheint uns das Wesen dieser Dich-
tungen; in ihrer äußeren Natur gleichen sie
aller volks- und sagenmäßigen: nirgends
feststehend, in jeder Gegend, fast in jedem
Munde, sich umwandelnd, bewahren sie treu
denselben Grund. Indessen unterscheiden sie
sich sehr bestimmt von den eigentlich loca-
len Volkssagen
, die an leibhafte Oerter
oder Helden der Geschichte gebunden sind,
deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl
viele gesammelt haben, und die wir ein an-
dermal herauszugeben denken. Mehrere
Aeußerungen einer und derselben Sage we-
gen ihrer angenehmen und eigenthümlichen
Abweichungen haben wir einigemal mitge-
theilt, das minder bedeutende in dem An-
hang, überhaupt aber so genau gesammelt,
als uns möglich war. Gewiß ist auch, daß
sich die Märchen in dem Fortgange der Zeit
beständig neu erzeugt, eben darum aber muß

Zuthun der Menſchen. Darin bewaͤhrt ſich
jede aͤchte Poeſie, daß ſie niemals ohne Be-
ziehung auf das Leben ſeyn kann, denn ſie
iſt aus ihm aufgeſtiegen und kehrt zu ihm
zuruͤck, wie die Wolken zu ihrer Geburts-
ſtaͤtte, nachdem ſie die Erde getraͤnkt haben.

So erſcheint uns das Weſen dieſer Dich-
tungen; in ihrer aͤußeren Natur gleichen ſie
aller volks- und ſagenmaͤßigen: nirgends
feſtſtehend, in jeder Gegend, faſt in jedem
Munde, ſich umwandelnd, bewahren ſie treu
denſelben Grund. Indeſſen unterſcheiden ſie
ſich ſehr beſtimmt von den eigentlich loca-
len Volksſagen
, die an leibhafte Oerter
oder Helden der Geſchichte gebunden ſind,
deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl
viele geſammelt haben, und die wir ein an-
dermal herauszugeben denken. Mehrere
Aeußerungen einer und derſelben Sage we-
gen ihrer angenehmen und eigenthuͤmlichen
Abweichungen haben wir einigemal mitge-
theilt, das minder bedeutende in dem An-
hang, uͤberhaupt aber ſo genau geſammelt,
als uns moͤglich war. Gewiß iſt auch, daß
ſich die Maͤrchen in dem Fortgange der Zeit
beſtaͤndig neu erzeugt, eben darum aber muß

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="XIII"/>
Zuthun der Men&#x017F;chen. Darin bewa&#x0364;hrt &#x017F;ich<lb/>
jede a&#x0364;chte Poe&#x017F;ie, daß &#x017F;ie niemals ohne Be-<lb/>
ziehung auf das Leben &#x017F;eyn kann, denn &#x017F;ie<lb/>
i&#x017F;t aus ihm aufge&#x017F;tiegen und kehrt zu ihm<lb/>
zuru&#x0364;ck, wie die Wolken zu ihrer Geburts-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;tte, nachdem &#x017F;ie die Erde getra&#x0364;nkt haben.</p><lb/>
        <p>So er&#x017F;cheint uns das We&#x017F;en die&#x017F;er Dich-<lb/>
tungen; in ihrer a&#x0364;ußeren Natur gleichen &#x017F;ie<lb/>
aller volks- und &#x017F;agenma&#x0364;ßigen: nirgends<lb/>
fe&#x017F;t&#x017F;tehend, in jeder Gegend, fa&#x017F;t in jedem<lb/>
Munde, &#x017F;ich umwandelnd, bewahren &#x017F;ie treu<lb/>
den&#x017F;elben Grund. Inde&#x017F;&#x017F;en unter&#x017F;cheiden &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;ehr be&#x017F;timmt von den eigentlich <hi rendition="#g">loca-<lb/>
len Volks&#x017F;agen</hi>, die an leibhafte Oerter<lb/>
oder Helden der Ge&#x017F;chichte gebunden &#x017F;ind,<lb/>
deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl<lb/>
viele ge&#x017F;ammelt haben, und die wir ein an-<lb/>
dermal herauszugeben denken. Mehrere<lb/>
Aeußerungen einer und der&#x017F;elben Sage we-<lb/>
gen ihrer angenehmen und eigenthu&#x0364;mlichen<lb/>
Abweichungen haben wir einigemal mitge-<lb/>
theilt, das minder bedeutende in dem An-<lb/>
hang, u&#x0364;berhaupt aber &#x017F;o genau ge&#x017F;ammelt,<lb/>
als uns mo&#x0364;glich war. Gewiß i&#x017F;t auch, daß<lb/>
&#x017F;ich die Ma&#x0364;rchen in dem Fortgange der Zeit<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig neu erzeugt, eben darum aber muß<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XIII/0019] Zuthun der Menſchen. Darin bewaͤhrt ſich jede aͤchte Poeſie, daß ſie niemals ohne Be- ziehung auf das Leben ſeyn kann, denn ſie iſt aus ihm aufgeſtiegen und kehrt zu ihm zuruͤck, wie die Wolken zu ihrer Geburts- ſtaͤtte, nachdem ſie die Erde getraͤnkt haben. So erſcheint uns das Weſen dieſer Dich- tungen; in ihrer aͤußeren Natur gleichen ſie aller volks- und ſagenmaͤßigen: nirgends feſtſtehend, in jeder Gegend, faſt in jedem Munde, ſich umwandelnd, bewahren ſie treu denſelben Grund. Indeſſen unterſcheiden ſie ſich ſehr beſtimmt von den eigentlich loca- len Volksſagen, die an leibhafte Oerter oder Helden der Geſchichte gebunden ſind, deren wir hier keine aufgenommen, wiewohl viele geſammelt haben, und die wir ein an- dermal herauszugeben denken. Mehrere Aeußerungen einer und derſelben Sage we- gen ihrer angenehmen und eigenthuͤmlichen Abweichungen haben wir einigemal mitge- theilt, das minder bedeutende in dem An- hang, uͤberhaupt aber ſo genau geſammelt, als uns moͤglich war. Gewiß iſt auch, daß ſich die Maͤrchen in dem Fortgange der Zeit beſtaͤndig neu erzeugt, eben darum aber muß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/19
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/19>, abgerufen am 23.11.2024.