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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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so sage ich euch, daß eure Tochter in ihrem
funfzehnten Jahre an einer Spindel sich stechen
und todt hinfallen wird." Die Eltern erschra-
cken, aber die zwölfte Fee hatte noch einen
Wunsch zu thun, da sprach sie: "es soll aber
kein Tod seyn, sie soll nur hundert Jahr in ei-
nen tiefen Schlaf fallen."

Der König hoffte immer noch sein liebes
Kind zu erretten, und ließ den Befehl ausge-
hen, daß alle Spindeln im ganzen Königreich
sollten abgeschafft werden. Die Prinzessin aber
wuchs heran, und war ein Wunder von Schön-
heit. Eines Tags, als sie ihr funfzehntes Jahr
eben erreicht hatte, war der König und die Kö-
nigin ausgegangen, und sie ganz allein im
Schloß, da ging sie aller Orten herum nach
ihrer Lust, endlich kam sie auch an einen alten
Thurm. Eine enge Treppe führte dazu, und
da sie neugierig war, stieg sie hinauf und ge-
langte zu einer kleinen Thüre, darin steckte ein
gelber Schlüssel, den drehte sie um, da sprang
die Thüre auf und sie war in einem kleinen
Stübchen, darin saß eine alte Frau und spann
ihren Flachs. Die alte Frau gefiel ihr wohl,
und sie machte Scherz mit ihr und sagte, sie
wollte auch einmal spinnen, und nahm ihr die
Spindel aus der Hand. Kaum aber hatte sie
die Spindel angerührt, so stach sie sich damit,
und alsbald fiel sie nieder in einen tiefen Schlaf.

ſo ſage ich euch, daß eure Tochter in ihrem
funfzehnten Jahre an einer Spindel ſich ſtechen
und todt hinfallen wird.“ Die Eltern erſchra-
cken, aber die zwoͤlfte Fee hatte noch einen
Wunſch zu thun, da ſprach ſie: „es ſoll aber
kein Tod ſeyn, ſie ſoll nur hundert Jahr in ei-
nen tiefen Schlaf fallen.“

Der Koͤnig hoffte immer noch ſein liebes
Kind zu erretten, und ließ den Befehl ausge-
hen, daß alle Spindeln im ganzen Koͤnigreich
ſollten abgeſchafft werden. Die Prinzeſſin aber
wuchs heran, und war ein Wunder von Schoͤn-
heit. Eines Tags, als ſie ihr funfzehntes Jahr
eben erreicht hatte, war der Koͤnig und die Koͤ-
nigin ausgegangen, und ſie ganz allein im
Schloß, da ging ſie aller Orten herum nach
ihrer Luſt, endlich kam ſie auch an einen alten
Thurm. Eine enge Treppe fuͤhrte dazu, und
da ſie neugierig war, ſtieg ſie hinauf und ge-
langte zu einer kleinen Thuͤre, darin ſteckte ein
gelber Schluͤſſel, den drehte ſie um, da ſprang
die Thuͤre auf und ſie war in einem kleinen
Stuͤbchen, darin ſaß eine alte Frau und ſpann
ihren Flachs. Die alte Frau gefiel ihr wohl,
und ſie machte Scherz mit ihr und ſagte, ſie
wollte auch einmal ſpinnen, und nahm ihr die
Spindel aus der Hand. Kaum aber hatte ſie
die Spindel angeruͤhrt, ſo ſtach ſie ſich damit,
und alsbald fiel ſie nieder in einen tiefen Schlaf.

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[226/0260] ſo ſage ich euch, daß eure Tochter in ihrem funfzehnten Jahre an einer Spindel ſich ſtechen und todt hinfallen wird.“ Die Eltern erſchra- cken, aber die zwoͤlfte Fee hatte noch einen Wunſch zu thun, da ſprach ſie: „es ſoll aber kein Tod ſeyn, ſie ſoll nur hundert Jahr in ei- nen tiefen Schlaf fallen.“ Der Koͤnig hoffte immer noch ſein liebes Kind zu erretten, und ließ den Befehl ausge- hen, daß alle Spindeln im ganzen Koͤnigreich ſollten abgeſchafft werden. Die Prinzeſſin aber wuchs heran, und war ein Wunder von Schoͤn- heit. Eines Tags, als ſie ihr funfzehntes Jahr eben erreicht hatte, war der Koͤnig und die Koͤ- nigin ausgegangen, und ſie ganz allein im Schloß, da ging ſie aller Orten herum nach ihrer Luſt, endlich kam ſie auch an einen alten Thurm. Eine enge Treppe fuͤhrte dazu, und da ſie neugierig war, ſtieg ſie hinauf und ge- langte zu einer kleinen Thuͤre, darin ſteckte ein gelber Schluͤſſel, den drehte ſie um, da ſprang die Thuͤre auf und ſie war in einem kleinen Stuͤbchen, darin ſaß eine alte Frau und ſpann ihren Flachs. Die alte Frau gefiel ihr wohl, und ſie machte Scherz mit ihr und ſagte, ſie wollte auch einmal ſpinnen, und nahm ihr die Spindel aus der Hand. Kaum aber hatte ſie die Spindel angeruͤhrt, ſo ſtach ſie ſich damit, und alsbald fiel ſie nieder in einen tiefen Schlaf.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/260>, abgerufen am 22.11.2024.