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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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suchen. Wieder drei Tage irrte er umsonst in
der Einsamkeit, am vierten aber hörte er einen
großen Adler daher rauschen, der sich auf ein
Nest niederließ. Reinald stellte sich ins Ge-
büsch und wartete bis er wieder wegflog, nach
sieben Stunden hob er sich auch wieder in die
Höhe. Da kam Reinald hervor, trat vor den
Baum und rief: "liebste Schwester bist du dro-
ben, so laß mich deine Stimme hören, ich bin
Reinald dein Bruder, und bin gekommen dich
zu besuchen!" Da hörte er es herunter rufen,
"bist du Reinald mein liebster Bruder, den ich
noch nicht gesehen habe, so komm herauf zu
mir." Reinald wollte binauf klettern aber der
Stamm war zu dick und glatt, dreimal ver-
suchte ers, aber umsonst, da fiel eine seidene
Strickleiter hinab, auf der stieg er bald zu dem
Adlernest, das war stark und fest, wie eine Al-
tane auf einer Linde. Seine Schwester saß un-
ter einem Thronhimmel von rosenfarbener Sei-
de und auf ihrem Schooß lag ein Adlerei, das
hielt sie warm und wollt es ausbrüten. Sie
küßten sich und freuten sich, aber nach einer
Weile sprach die Prinzessin: "nun eil, liebster
Bruder, daß du fort kommst, sieht dich der Ad-
ler, mein Gemahl, so hackt er dir die Augen
aus und frißt dir das Herz ab, wie er dreien
deiner Diener gethan, die dich im Walde such-
ten." Reinald sagte, "nein ich bleibe hier,

ſuchen. Wieder drei Tage irrte er umſonſt in
der Einſamkeit, am vierten aber hoͤrte er einen
großen Adler daher rauſchen, der ſich auf ein
Neſt niederließ. Reinald ſtellte ſich ins Ge-
buͤſch und wartete bis er wieder wegflog, nach
ſieben Stunden hob er ſich auch wieder in die
Hoͤhe. Da kam Reinald hervor, trat vor den
Baum und rief: „liebſte Schweſter biſt du dro-
ben, ſo laß mich deine Stimme hoͤren, ich bin
Reinald dein Bruder, und bin gekommen dich
zu beſuchen!“ Da hoͤrte er es herunter rufen,
„biſt du Reinald mein liebſter Bruder, den ich
noch nicht geſehen habe, ſo komm herauf zu
mir.“ Reinald wollte binauf klettern aber der
Stamm war zu dick und glatt, dreimal ver-
ſuchte ers, aber umſonſt, da fiel eine ſeidene
Strickleiter hinab, auf der ſtieg er bald zu dem
Adlerneſt, das war ſtark und feſt, wie eine Al-
tane auf einer Linde. Seine Schweſter ſaß un-
ter einem Thronhimmel von roſenfarbener Sei-
de und auf ihrem Schooß lag ein Adlerei, das
hielt ſie warm und wollt es ausbruͤten. Sie
kuͤßten ſich und freuten ſich, aber nach einer
Weile ſprach die Prinzeſſin: „nun eil, liebſter
Bruder, daß du fort kommſt, ſieht dich der Ad-
ler, mein Gemahl, ſo hackt er dir die Augen
aus und frißt dir das Herz ab, wie er dreien
deiner Diener gethan, die dich im Walde ſuch-
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[376/0410] ſuchen. Wieder drei Tage irrte er umſonſt in der Einſamkeit, am vierten aber hoͤrte er einen großen Adler daher rauſchen, der ſich auf ein Neſt niederließ. Reinald ſtellte ſich ins Ge- buͤſch und wartete bis er wieder wegflog, nach ſieben Stunden hob er ſich auch wieder in die Hoͤhe. Da kam Reinald hervor, trat vor den Baum und rief: „liebſte Schweſter biſt du dro- ben, ſo laß mich deine Stimme hoͤren, ich bin Reinald dein Bruder, und bin gekommen dich zu beſuchen!“ Da hoͤrte er es herunter rufen, „biſt du Reinald mein liebſter Bruder, den ich noch nicht geſehen habe, ſo komm herauf zu mir.“ Reinald wollte binauf klettern aber der Stamm war zu dick und glatt, dreimal ver- ſuchte ers, aber umſonſt, da fiel eine ſeidene Strickleiter hinab, auf der ſtieg er bald zu dem Adlerneſt, das war ſtark und feſt, wie eine Al- tane auf einer Linde. Seine Schweſter ſaß un- ter einem Thronhimmel von roſenfarbener Sei- de und auf ihrem Schooß lag ein Adlerei, das hielt ſie warm und wollt es ausbruͤten. Sie kuͤßten ſich und freuten ſich, aber nach einer Weile ſprach die Prinzeſſin: „nun eil, liebſter Bruder, daß du fort kommſt, ſieht dich der Ad- ler, mein Gemahl, ſo hackt er dir die Augen aus und frißt dir das Herz ab, wie er dreien deiner Diener gethan, die dich im Walde ſuch- ten.“ Reinald ſagte, „nein ich bleibe hier,

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/410>, abgerufen am 24.11.2024.