hin. Er stellte sich an das Ufer und rief: "lieb- ste Schwester bist du darin, so laß mich deine Stimme hören, ich bin Reinald dein Bruder und bin gekommen dich zu besuchen;" aber es antwortete niemand, und war alles ganz still. Er bröselte Brotkrumen ins Wasser und sprach zu den Fischen: "ihr lieben Fische, geht hin zu meiner Schwester und sagt ihr, daß Reinald das Wunderkind da ist und zu ihr will." Aber die rothgefleckten Forellen schnappten das Brot auf, und hörten nicht auf seine Worte. Da sah er einen Nachen, alsbald warf er seine Rüstung ab, und behielt nur sein blankes Schwert in der Hand, sprang in das Schiff und ruderte fort. So war er lang geschwommen, als er ei- nen Schornstein von Bergkristall über dem Was- ser ragen sah, aus dem ein angenehmer Geruch hervor stieg. Reinald ruderte darauf hin und dachte, da unten wohnt gewiß meine Schwester, dann setzte er sich in den Schornstein und rutsch- te hinab. Die Prinzessin erschrak recht als sie auf einmal ein paar Menschenbeine im Schorn- stein zappeln sah, bald kam ein ganzer Mann herunter, und gab sich als ihren Bruder zu er- kennen. Da freute sie sich von Herzen, dann aber ward sie betrübt und sagte: "der Wall- fisch, hat gehört, daß du mich aufsuchen willst, und hat geklagt, wenn du kämst und er sey Wallfisch, könne er seine Begierde dich zu fres-
hin. Er ſtellte ſich an das Ufer und rief: „lieb- ſte Schweſter biſt du darin, ſo laß mich deine Stimme hoͤren, ich bin Reinald dein Bruder und bin gekommen dich zu beſuchen;“ aber es antwortete niemand, und war alles ganz ſtill. Er broͤſelte Brotkrumen ins Waſſer und ſprach zu den Fiſchen: „ihr lieben Fiſche, geht hin zu meiner Schweſter und ſagt ihr, daß Reinald das Wunderkind da iſt und zu ihr will.“ Aber die rothgefleckten Forellen ſchnappten das Brot auf, und hoͤrten nicht auf ſeine Worte. Da ſah er einen Nachen, alsbald warf er ſeine Ruͤſtung ab, und behielt nur ſein blankes Schwert in der Hand, ſprang in das Schiff und ruderte fort. So war er lang geſchwommen, als er ei- nen Schornſtein von Bergkriſtall uͤber dem Waſ- ſer ragen ſah, aus dem ein angenehmer Geruch hervor ſtieg. Reinald ruderte darauf hin und dachte, da unten wohnt gewiß meine Schweſter, dann ſetzte er ſich in den Schornſtein und rutſch- te hinab. Die Prinzeſſin erſchrak recht als ſie auf einmal ein paar Menſchenbeine im Schorn- ſtein zappeln ſah, bald kam ein ganzer Mann herunter, und gab ſich als ihren Bruder zu er- kennen. Da freute ſie ſich von Herzen, dann aber ward ſie betruͤbt und ſagte: „der Wall- fiſch, hat gehoͤrt, daß du mich aufſuchen willſt, und hat geklagt, wenn du kaͤmſt und er ſey Wallfiſch, koͤnne er ſeine Begierde dich zu freſ-
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hin. Er ſtellte ſich an das Ufer und rief: „lieb-
ſte Schweſter biſt du darin, ſo laß mich deine
Stimme hoͤren, ich bin Reinald dein Bruder
und bin gekommen dich zu beſuchen;“ aber es
antwortete niemand, und war alles ganz ſtill.
Er broͤſelte Brotkrumen ins Waſſer und ſprach
zu den Fiſchen: „ihr lieben Fiſche, geht hin zu
meiner Schweſter und ſagt ihr, daß Reinald
das Wunderkind da iſt und zu ihr will.“ Aber
die rothgefleckten Forellen ſchnappten das Brot
auf, und hoͤrten nicht auf ſeine Worte. Da ſah
er einen Nachen, alsbald warf er ſeine Ruͤſtung
ab, und behielt nur ſein blankes Schwert in
der Hand, ſprang in das Schiff und ruderte
fort. So war er lang geſchwommen, als er ei-
nen Schornſtein von Bergkriſtall uͤber dem Waſ-
ſer ragen ſah, aus dem ein angenehmer Geruch
hervor ſtieg. Reinald ruderte darauf hin und
dachte, da unten wohnt gewiß meine Schweſter,
dann ſetzte er ſich in den Schornſtein und rutſch-
te hinab. Die Prinzeſſin erſchrak recht als ſie
auf einmal ein paar Menſchenbeine im Schorn-
ſtein zappeln ſah, bald kam ein ganzer Mann
herunter, und gab ſich als ihren Bruder zu er-
kennen. Da freute ſie ſich von Herzen, dann
aber ward ſie betruͤbt und ſagte: „der Wall-
fiſch, hat gehoͤrt, daß du mich aufſuchen willſt,
und hat geklagt, wenn du kaͤmſt und er ſey
Wallfiſch, koͤnne er ſeine Begierde dich zu freſ-
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/412>, abgerufen am 24.11.2024.
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