Wort reden. In dem Baum war eine Höhle, darin saß es bei Regen und Gewitter, und schlief es in der Nacht; Wurzeln und Waldbee- ren waren seine Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es Wurzeln und Blätter und trug sie in die Höhle, und wenn es dann schneite und fror, saß es darin. Seine Kleider verdarben auch und fielen ihm ab, da saß es in die Blätter ganz eingehüllt, und wenn die Sonne wieder warm schien ging es heraus, setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel.
Einmal, als es so im Frühjahr vor dem Baume saß, drängte sich jemand mit Gewalt durch das Gebüsch, das war aber der König, der in dem Wald gejagt und sich verirrt hatte. Er war erstaunt, daß in der Einöde ein so schö- nes Mädchen allein saß, und fragte es: ob es mit auf sein Schloß gehen wollte. Es konnte aber nicht antworten, sondern nickte bloß ein wenig mit dem Kopf, da hob es der König auf sein Pferd und führte es mit sich heim und bald gewann er es so lieb, daß er es zu seiner Ge- mahlin machte. Nach Verlauf eines Jahres brachte die Königin einen schönen Prinzen zur Welt. In der Nacht erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: "sag' jetzt die Wahrheit, daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, dann
Wort reden. In dem Baum war eine Hoͤhle, darin ſaß es bei Regen und Gewitter, und ſchlief es in der Nacht; Wurzeln und Waldbee- ren waren ſeine Nahrung, die ſuchte es ſich, ſo weit es kommen konnte. Im Herbſt ſammelte es Wurzeln und Blaͤtter und trug ſie in die Hoͤhle, und wenn es dann ſchneite und fror, ſaß es darin. Seine Kleider verdarben auch und fielen ihm ab, da ſaß es in die Blaͤtter ganz eingehuͤllt, und wenn die Sonne wieder warm ſchien ging es heraus, ſetzte ſich vor den Baum, und ſeine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel.
Einmal, als es ſo im Fruͤhjahr vor dem Baume ſaß, draͤngte ſich jemand mit Gewalt durch das Gebuͤſch, das war aber der Koͤnig, der in dem Wald gejagt und ſich verirrt hatte. Er war erſtaunt, daß in der Einoͤde ein ſo ſchoͤ- nes Maͤdchen allein ſaß, und fragte es: ob es mit auf ſein Schloß gehen wollte. Es konnte aber nicht antworten, ſondern nickte bloß ein wenig mit dem Kopf, da hob es der Koͤnig auf ſein Pferd und fuͤhrte es mit ſich heim und bald gewann er es ſo lieb, daß er es zu ſeiner Ge- mahlin machte. Nach Verlauf eines Jahres brachte die Koͤnigin einen ſchoͤnen Prinzen zur Welt. In der Nacht erſchien ihr die Jungfrau Maria und ſprach: „ſag' jetzt die Wahrheit, daß du die verbotene Thuͤr aufgeſchloſſen haſt, dann
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Wort reden. In dem Baum war eine Hoͤhle,
darin ſaß es bei Regen und Gewitter, und
ſchlief es in der Nacht; Wurzeln und Waldbee-
ren waren ſeine Nahrung, die ſuchte es ſich, ſo
weit es kommen konnte. Im Herbſt ſammelte
es Wurzeln und Blaͤtter und trug ſie in die
Hoͤhle, und wenn es dann ſchneite und fror,
ſaß es darin. Seine Kleider verdarben auch
und fielen ihm ab, da ſaß es in die Blaͤtter
ganz eingehuͤllt, und wenn die Sonne wieder
warm ſchien ging es heraus, ſetzte ſich vor den
Baum, und ſeine langen Haare bedeckten es
von allen Seiten wie ein Mantel.
Einmal, als es ſo im Fruͤhjahr vor dem
Baume ſaß, draͤngte ſich jemand mit Gewalt
durch das Gebuͤſch, das war aber der Koͤnig,
der in dem Wald gejagt und ſich verirrt hatte.
Er war erſtaunt, daß in der Einoͤde ein ſo ſchoͤ-
nes Maͤdchen allein ſaß, und fragte es: ob es
mit auf ſein Schloß gehen wollte. Es konnte
aber nicht antworten, ſondern nickte bloß ein
wenig mit dem Kopf, da hob es der Koͤnig auf
ſein Pferd und fuͤhrte es mit ſich heim und bald
gewann er es ſo lieb, daß er es zu ſeiner Ge-
mahlin machte. Nach Verlauf eines Jahres
brachte die Koͤnigin einen ſchoͤnen Prinzen zur
Welt. In der Nacht erſchien ihr die Jungfrau
Maria und ſprach: „ſag' jetzt die Wahrheit, daß
du die verbotene Thuͤr aufgeſchloſſen haſt, dann
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/45>, abgerufen am 21.11.2024.
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