Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur, wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Ueberlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehören, und wo sie ohne Ueberdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann seyn, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächerlichkeit der Zeit jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur, waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Ueberlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt und staͤrkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehoͤren, und wo sie ohne Ueberdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann seyn, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Laͤcherlichkeit der Zeit <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0026" n="XVIII"/> jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur, waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Ueberlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt und staͤrkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehoͤren, und wo sie ohne Ueberdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann seyn, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Laͤcherlichkeit der Zeit </p> </div> </front> </text> </TEI> [XVIII/0026]
jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur, waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Ueberlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt und staͤrkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehoͤren, und wo sie ohne Ueberdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann seyn, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Laͤcherlichkeit der Zeit
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.
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