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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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Die meisten der hier geschilderten Zustände des Lebens sind so einfach, daß viele sie wohl im eigenen gefunden, aber sie sind, wie alle wahrhaftigen, doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und müssen in dieser Noth die Kinder im Walde zurück lassen, oder eine harte Stiefmutter läßt sie darben und leiden und möchte sie gar verderben*), aber Gott sendet seine Hilfe, er schickt die Tauben, damit sie Nahrung bringen oder dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche lesen. Dann sind die Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Thieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei; das Brüderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden oder das Schwesterchen leitet es, wann es die Hexe in ein Rehkälbchen verwandelt, sucht ihm Kräuter und Moos zum Lager; und welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natürliche Mensch gewiß einmal gesehnt hat! Oder es sitzt Jahre lang schweigend und emsig arbeitend, um ein Hemd zu nähen, das den Zauber vernichtet.

*) Dieses Verhältniß kommt hier oft vor, und ist wohl die erste Wolke, die in dem Himmel eines Kindes aufsteigt und die ersten Thränen erpreßt welche die Menschen nicht sehen, aber die Engel zählen. Ein schönes dänisches Volkslied erzählt, wie die Mutter im Grabe das Schreien ihrer von der Stiefmutter verlassenen Kinder hört, Gott bittet aufstehen zu dürfen, und wie sie in der Nacht hingeht und sie pflegt und das kleine tränkt. Selbst Blumen haben davon ihren Namen erhalten: die Viola tricolor heißt Stiefmütterchen, weil jedes der gelben Blätter unter sich ein schmales, grünes Blättchen hat, wovon es gehalten wird, das sind die Stühle, welche die Mutter ihren rechten, lustigen Kindern gegeben; oben müssen die zwei Stiefkinder, in dunkelviolett trauernd, stehen und haben keine Stühle.

Die meisten der hier geschilderten Zustaͤnde des Lebens sind so einfach, daß viele sie wohl im eigenen gefunden, aber sie sind, wie alle wahrhaftigen, doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und muͤssen in dieser Noth die Kinder im Walde zuruͤck lassen, oder eine harte Stiefmutter laͤßt sie darben und leiden und moͤchte sie gar verderben*), aber Gott sendet seine Hilfe, er schickt die Tauben, damit sie Nahrung bringen oder dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche lesen. Dann sind die Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Thieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei; das Bruͤderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden oder das Schwesterchen leitet es, wann es die Hexe in ein Rehkaͤlbchen verwandelt, sucht ihm Kraͤuter und Moos zum Lager; und welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natuͤrliche Mensch gewiß einmal gesehnt hat! Oder es sitzt Jahre lang schweigend und emsig arbeitend, um ein Hemd zu naͤhen, das den Zauber vernichtet.

*) Dieses Verhaͤltniß kommt hier oft vor, und ist wohl die erste Wolke, die in dem Himmel eines Kindes aufsteigt und die ersten Thraͤnen erpreßt welche die Menschen nicht sehen, aber die Engel zaͤhlen. Ein schoͤnes daͤnisches Volkslied erzaͤhlt, wie die Mutter im Grabe das Schreien ihrer von der Stiefmutter verlassenen Kinder hoͤrt, Gott bittet aufstehen zu duͤrfen, und wie sie in der Nacht hingeht und sie pflegt und das kleine traͤnkt. Selbst Blumen haben davon ihren Namen erhalten: die Viola tricolor heißt Stiefmuͤtterchen, weil jedes der gelben Blaͤtter unter sich ein schmales, gruͤnes Blaͤttchen hat, wovon es gehalten wird, das sind die Stuͤhle, welche die Mutter ihren rechten, lustigen Kindern gegeben; oben muͤssen die zwei Stiefkinder, in dunkelviolett trauernd, stehen und haben keine Stuͤhle.
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[XXII/0030] Die meisten der hier geschilderten Zustaͤnde des Lebens sind so einfach, daß viele sie wohl im eigenen gefunden, aber sie sind, wie alle wahrhaftigen, doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und muͤssen in dieser Noth die Kinder im Walde zuruͤck lassen, oder eine harte Stiefmutter laͤßt sie darben und leiden und moͤchte sie gar verderben *), aber Gott sendet seine Hilfe, er schickt die Tauben, damit sie Nahrung bringen oder dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche lesen. Dann sind die Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Thieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei; das Bruͤderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden oder das Schwesterchen leitet es, wann es die Hexe in ein Rehkaͤlbchen verwandelt, sucht ihm Kraͤuter und Moos zum Lager; und welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natuͤrliche Mensch gewiß einmal gesehnt hat! Oder es sitzt Jahre lang schweigend und emsig arbeitend, um ein Hemd zu naͤhen, das den Zauber vernichtet. *) Dieses Verhaͤltniß kommt hier oft vor, und ist wohl die erste Wolke, die in dem Himmel eines Kindes aufsteigt und die ersten Thraͤnen erpreßt welche die Menschen nicht sehen, aber die Engel zaͤhlen. Ein schoͤnes daͤnisches Volkslied erzaͤhlt, wie die Mutter im Grabe das Schreien ihrer von der Stiefmutter verlassenen Kinder hoͤrt, Gott bittet aufstehen zu duͤrfen, und wie sie in der Nacht hingeht und sie pflegt und das kleine traͤnkt. Selbst Blumen haben davon ihren Namen erhalten: die Viola tricolor heißt Stiefmuͤtterchen, weil jedes der gelben Blaͤtter unter sich ein schmales, gruͤnes Blaͤttchen hat, wovon es gehalten wird, das sind die Stuͤhle, welche die Mutter ihren rechten, lustigen Kindern gegeben; oben muͤssen die zwei Stiefkinder, in dunkelviolett trauernd, stehen und haben keine Stuͤhle.

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/30>, abgerufen am 23.11.2024.