Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite
3.
Marienkind.

Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Mädchen und drei Jahr alt. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Da ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand aufeinmal eine schöne, große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: "ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins, du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter seyn und für es sorgen." Der Holzhacker holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm. Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: "liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Thüren des Himmelreichs in Verwahrung, zwölf darfst du davon aufschließen und die Herrlichkeiten betrachten, aber die dreizehnte, die dieser kleine Schlüssel öffnet, die ist dir verboten, und hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich." Das Mädchen versprach ihr gehorsam zu seyn und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing

3.
Marienkind.

Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Maͤdchen und drei Jahr alt. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das taͤgliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Da ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand aufeinmal eine schoͤne, große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: „ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins, du bist arm und duͤrftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter seyn und fuͤr es sorgen.“ Der Holzhacker holte sein Kind und uͤbergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank suͤße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm. Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: „liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schluͤssel zu den dreizehn Thuͤren des Himmelreichs in Verwahrung, zwoͤlf darfst du davon aufschließen und die Herrlichkeiten betrachten, aber die dreizehnte, die dieser kleine Schluͤssel oͤffnet, die ist dir verboten, und huͤte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du ungluͤcklich.“ Das Maͤdchen versprach ihr gehorsam zu seyn und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0072" n="8"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">3.<lb/>
Marienkind.</hi> </head><lb/>
        <p>Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Ma&#x0364;dchen und drei Jahr alt. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das ta&#x0364;gliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Da ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand aufeinmal eine scho&#x0364;ne, große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: &#x201E;ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins, du bist arm und du&#x0364;rftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter seyn und fu&#x0364;r es sorgen.&#x201C; Der Holzhacker holte sein Kind und u&#x0364;bergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank su&#x0364;ße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm. Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: &#x201E;liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlu&#x0364;ssel zu den dreizehn Thu&#x0364;ren des Himmelreichs in Verwahrung, zwo&#x0364;lf darfst du davon aufschließen und die Herrlichkeiten betrachten, aber die dreizehnte, die dieser kleine Schlu&#x0364;ssel o&#x0364;ffnet, die ist dir verboten, und hu&#x0364;te dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglu&#x0364;cklich.&#x201C; Das Ma&#x0364;dchen versprach ihr gehorsam zu seyn und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0072] 3. Marienkind. Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und seinem einzigen Kind, das war ein Maͤdchen und drei Jahr alt. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das taͤgliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Da ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand aufeinmal eine schoͤne, große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: „ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins, du bist arm und duͤrftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter seyn und fuͤr es sorgen.“ Der Holzhacker holte sein Kind und uͤbergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank suͤße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm. Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: „liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schluͤssel zu den dreizehn Thuͤren des Himmelreichs in Verwahrung, zwoͤlf darfst du davon aufschließen und die Herrlichkeiten betrachten, aber die dreizehnte, die dieser kleine Schluͤssel oͤffnet, die ist dir verboten, und huͤte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du ungluͤcklich.“ Das Maͤdchen versprach ihr gehorsam zu seyn und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/72
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/72>, abgerufen am 21.11.2024.