Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

Kunst, die mich ernähren kann." "Lerne was du willst, sprach der Vater, mir ist alles einerlei, da hast du funfzig Thaler, damit geh mir aus den Augen und sag keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schämen." "Ja, Vater, wie ihrs haben wollt, wenn ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in Acht behalten."

Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine funfzig Thaler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: "wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!" Da ging ein Mann neben ihm, der hörte das Gespräch mit an und als sie ein Stück weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte er zu dem Jungen: "siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben, setz dich darunter und wart bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen." "Wenn weiter nichts dazu gehört, antwortete der Junge, das will ich gern thun, lern ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine funfzig Thaler haben, komm nur Morgen früh wieder zu mir." Da ging der Junge zu dem Galgen und setzte sich darunter und wartete bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegen einander stieß, daß sie sich hin und her bewegten, da dachte er: du frierst unten bei dem Feuer, was mögen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los und

Kunst, die mich ernaͤhren kann.“ „Lerne was du willst, sprach der Vater, mir ist alles einerlei, da hast du funfzig Thaler, damit geh mir aus den Augen und sag keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schaͤmen.“ „Ja, Vater, wie ihrs haben wollt, wenn ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in Acht behalten.“

Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine funfzig Thaler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: „wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!“ Da ging ein Mann neben ihm, der hoͤrte das Gespraͤch mit an und als sie ein Stuͤck weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte er zu dem Jungen: „siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben, setz dich darunter und wart bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.“ „Wenn weiter nichts dazu gehoͤrt, antwortete der Junge, das will ich gern thun, lern ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine funfzig Thaler haben, komm nur Morgen fruͤh wieder zu mir.“ Da ging der Junge zu dem Galgen und setzte sich darunter und wartete bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegen einander stieß, daß sie sich hin und her bewegten, da dachte er: du frierst unten bei dem Feuer, was moͤgen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knuͤpfte einen nach dem andern los und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0081" n="17"/>
Kunst, die mich erna&#x0364;hren kann.&#x201C; &#x201E;Lerne was du willst, sprach der Vater, mir ist alles einerlei, da hast du funfzig Thaler, damit geh mir aus den Augen und sag keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner scha&#x0364;men.&#x201C; &#x201E;Ja, Vater, wie ihrs haben wollt, wenn ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in Acht behalten.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine funfzig Thaler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: &#x201E;wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!&#x201C; Da ging ein Mann neben ihm, der ho&#x0364;rte das Gespra&#x0364;ch mit an und als sie ein Stu&#x0364;ck weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte er zu dem Jungen: &#x201E;siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben, setz dich darunter und wart bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.&#x201C; &#x201E;Wenn weiter nichts dazu geho&#x0364;rt, antwortete der Junge, das will ich gern thun, lern ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine funfzig Thaler haben, komm nur Morgen fru&#x0364;h wieder zu mir.&#x201C; Da ging der Junge zu dem Galgen und setzte sich darunter und wartete bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegen einander stieß, daß sie sich hin und her bewegten, da dachte er: du frierst unten bei dem Feuer, was mo&#x0364;gen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knu&#x0364;pfte einen nach dem andern los und
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0081] Kunst, die mich ernaͤhren kann.“ „Lerne was du willst, sprach der Vater, mir ist alles einerlei, da hast du funfzig Thaler, damit geh mir aus den Augen und sag keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schaͤmen.“ „Ja, Vater, wie ihrs haben wollt, wenn ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in Acht behalten.“ Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine funfzig Thaler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: „wenn mirs nur gruselte! wenn mirs nur gruselte!“ Da ging ein Mann neben ihm, der hoͤrte das Gespraͤch mit an und als sie ein Stuͤck weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte er zu dem Jungen: „siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben, setz dich darunter und wart bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.“ „Wenn weiter nichts dazu gehoͤrt, antwortete der Junge, das will ich gern thun, lern ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine funfzig Thaler haben, komm nur Morgen fruͤh wieder zu mir.“ Da ging der Junge zu dem Galgen und setzte sich darunter und wartete bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegen einander stieß, daß sie sich hin und her bewegten, da dachte er: du frierst unten bei dem Feuer, was moͤgen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knuͤpfte einen nach dem andern los und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/81
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/81>, abgerufen am 21.11.2024.