Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Die Frau, Namens Viehmännin, war noch rüstig, und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Jhre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.*) Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen

*) Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blätter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Unglück, das wohlthätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre schon arme Hütte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.

dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Baͤuerin kennen lernten, die uns die meisten und schoͤnsten Maͤrchen des zweiten Bandes erzaͤhlte. Die Frau, Namens Viehmaͤnnin, war noch ruͤstig, und nicht viel uͤber fuͤnfzig Jahre alt. Jhre Gesichtszuͤge hatten etwas Festes, Verstaͤndiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.*) Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedaͤchtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten koͤnne. Dabei erzaͤhlte sie bedaͤchtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise woͤrtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen

*) Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht aͤhnliche und natuͤrliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blaͤtter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Ungluͤck, das wohlthaͤtige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die hoͤchste Noth in ihre schon arme Huͤtte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <p><pb facs="#f0017" n="XIV"/>
dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Ba&#x0364;uerin kennen lernten, die uns die meisten und scho&#x0364;nsten Ma&#x0364;rchen des zweiten Bandes erza&#x0364;hlte. Die Frau, Namens Viehma&#x0364;nnin, war noch ru&#x0364;stig, und nicht viel u&#x0364;ber fu&#x0364;nfzig Jahre alt. Jhre Gesichtszu&#x0364;ge hatten etwas Festes, Versta&#x0364;ndiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.<note place="foot" n="*)">Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht a&#x0364;hnliche und natu&#x0364;rliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Bla&#x0364;tter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Unglu&#x0364;ck, das wohltha&#x0364;tige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die ho&#x0364;chste Noth in ihre schon arme Hu&#x0364;tte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.</note> Sie bewahrte die alten Sagen fest im Geda&#x0364;chtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten ko&#x0364;nne. Dabei erza&#x0364;hlte sie beda&#x0364;chtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wo&#x0364;rtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen
</p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XIV/0017] dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Baͤuerin kennen lernten, die uns die meisten und schoͤnsten Maͤrchen des zweiten Bandes erzaͤhlte. Die Frau, Namens Viehmaͤnnin, war noch ruͤstig, und nicht viel uͤber fuͤnfzig Jahre alt. Jhre Gesichtszuͤge hatten etwas Festes, Verstaͤndiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf. *) Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedaͤchtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten koͤnne. Dabei erzaͤhlte sie bedaͤchtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise woͤrtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen *) Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht aͤhnliche und natuͤrliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blaͤtter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Ungluͤck, das wohlthaͤtige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die hoͤchste Noth in ihre schon arme Huͤtte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Göttinger Digitalisierungszentrum: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/17
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/17>, abgerufen am 03.12.2024.