Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er 'das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,' und das glaubte jedermann. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, so sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Heerde über die Brücke, und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen, und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, und hob es auf, und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen 'Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein. mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein.' 'Was für ein wunderliches Hörnchen,' sagte der Hirt, 'das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.' Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke ausgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden in den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt. erhielt. Als der juͤngste Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er ‘das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,’ und das glaubte jedermann. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, so sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Heerde uͤber die Bruͤcke, und sah unten im Sande ein schneeweißes Knoͤchlein liegen, und dachte das gaͤbe ein gutes Mundstuͤck. Da stieg er herab, und hob es auf, und schnitzte ein Mundstuͤck daraus fuͤr sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knoͤchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen ‘Ach, du liebes Hirtelein, du blaͤst auf meinem Knoͤchelein. mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Bruͤcke begraben, um das wilde Schwein, fuͤr des Koͤnigs Toͤchterlein.’ ‘Was fuͤr ein wunderliches Hoͤrnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn Koͤnig bringen.’ Als er damit vor den Koͤnig kam, fieng das Hoͤrnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der Koͤnig verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Bruͤcke ausgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der boͤse Bruder konnte die That nicht laͤugnen, ward in einen Sack genaͤht und lebendig ersaͤuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden in den Kirchhof in ein schoͤnes Grab zur Ruhe gelegt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0206" n="173"/> erhielt. Als der juͤngste Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er ‘das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,’ und das glaubte jedermann.</p><lb/> <p>Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, so sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Heerde uͤber die Bruͤcke, und sah unten im Sande ein schneeweißes Knoͤchlein liegen, und dachte das gaͤbe ein gutes Mundstuͤck. Da stieg er herab, und hob es auf, und schnitzte ein Mundstuͤck daraus fuͤr sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knoͤchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Ach, du liebes Hirtelein,</l><lb/> <l>du blaͤst auf meinem Knoͤchelein.</l><lb/> <l>mein Bruder hat mich erschlagen,</l><lb/> <l>unter der Bruͤcke begraben,</l><lb/> <l>um das wilde Schwein,</l><lb/> <l>fuͤr des Koͤnigs Toͤchterlein.’</l><lb/> </lg> <p>‘Was fuͤr ein wunderliches Hoͤrnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn Koͤnig bringen.’ Als er damit vor den Koͤnig kam, fieng das Hoͤrnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der Koͤnig verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Bruͤcke ausgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der boͤse Bruder konnte die That nicht laͤugnen, ward in einen Sack genaͤht und lebendig ersaͤuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden in den Kirchhof in ein schoͤnes Grab zur Ruhe gelegt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [173/0206]
erhielt. Als der juͤngste Bruder nicht wiederkommen wollte, sagte er ‘das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,’ und das glaubte jedermann.
Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, so sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Heerde uͤber die Bruͤcke, und sah unten im Sande ein schneeweißes Knoͤchlein liegen, und dachte das gaͤbe ein gutes Mundstuͤck. Da stieg er herab, und hob es auf, und schnitzte ein Mundstuͤck daraus fuͤr sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knoͤchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen
‘Ach, du liebes Hirtelein,
du blaͤst auf meinem Knoͤchelein.
mein Bruder hat mich erschlagen,
unter der Bruͤcke begraben,
um das wilde Schwein,
fuͤr des Koͤnigs Toͤchterlein.’
‘Was fuͤr ein wunderliches Hoͤrnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn Koͤnig bringen.’ Als er damit vor den Koͤnig kam, fieng das Hoͤrnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der Koͤnig verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Bruͤcke ausgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der boͤse Bruder konnte die That nicht laͤugnen, ward in einen Sack genaͤht und lebendig ersaͤuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden in den Kirchhof in ein schoͤnes Grab zur Ruhe gelegt.
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