Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Königssohn kam und rief 'Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter' so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Königssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach 'für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.' Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stürzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt. machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Königssohn kam und rief ‘Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter’ so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Königssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach ‘für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.’ Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stürzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0129" n="80"/> machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Königssohn kam und rief</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Rapunzel, Rapunzel,</l><lb/> <l>laß dein Haar herunter’</l><lb/> </lg> <p>so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Königssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach ‘für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.’ Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stürzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [80/0129]
machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Königssohn kam und rief
‘Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter’
so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Königssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach ‘für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.’ Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stürzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2015-07-24T14:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |