Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Mädchen aber dachte in seinem Herzen es wollte seine Brüder erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Am andern Morgen gieng es aus, sammelte Sternblumen, und fieng an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust: es saß da, und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte, und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen es an und sagten 'wer bist du?' Es gab aber keine Antwort. 'Komm herab zu uns,' sagten sie, 'wir wollen dir nichts zu Leid thun.' Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es ihnen seine goldene Halskette herab, und dachte sie damit zufrieden zu stellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so daß es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab, und führten es vor den König. Der König fragte 'wer bist du? was machst du auf dem Baum?' Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen, die er wußte, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihm. Er that ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd, und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider anthun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort

Das Mädchen aber dachte in seinem Herzen es wollte seine Brüder erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Am andern Morgen gieng es aus, sammelte Sternblumen, und fieng an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust: es saß da, und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte, und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen es an und sagten ‘wer bist du?’ Es gab aber keine Antwort. ‘Komm herab zu uns,’ sagten sie, ‘wir wollen dir nichts zu Leid thun.’ Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es ihnen seine goldene Halskette herab, und dachte sie damit zufrieden zu stellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so daß es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab, und führten es vor den König. Der König fragte ‘wer bist du? was machst du auf dem Baum?’ Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen, die er wußte, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihm. Er that ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd, und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider anthun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0344" n="295"/>
        <p> Das Mädchen aber dachte in seinem Herzen es wollte seine Brüder erlösen, und wenn <choice><sic>e sauch</sic><corr>es auch</corr></choice> sein Leben kostete. Am andern Morgen gieng es aus, sammelte Sternblumen, und fieng an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust: es saß da, und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte, und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen es an und sagten &#x2018;wer bist du?&#x2019; Es gab aber keine Antwort. &#x2018;Komm herab zu uns,&#x2019; sagten sie, &#x2018;wir wollen dir nichts zu Leid thun.&#x2019; Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es ihnen seine goldene Halskette herab, und dachte sie damit zufrieden zu stellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so daß es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab, und führten es vor den König. Der König fragte &#x2018;wer bist du? was machst du auf dem Baum?&#x2019; Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen, die er wußte, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihm. Er that ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd, und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider anthun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[295/0344] Das Mädchen aber dachte in seinem Herzen es wollte seine Brüder erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Am andern Morgen gieng es aus, sammelte Sternblumen, und fieng an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust: es saß da, und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte, und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen es an und sagten ‘wer bist du?’ Es gab aber keine Antwort. ‘Komm herab zu uns,’ sagten sie, ‘wir wollen dir nichts zu Leid thun.’ Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es ihnen seine goldene Halskette herab, und dachte sie damit zufrieden zu stellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so daß es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab, und führten es vor den König. Der König fragte ‘wer bist du? was machst du auf dem Baum?’ Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen, die er wußte, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihm. Er that ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd, und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider anthun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/344
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/344>, abgerufen am 24.11.2024.