Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.20. Das tapfere Schneiderlein. An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief 'gut Mus feil! gut Mus feil!' Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief 'hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.' Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich 'das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.' Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. 'Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,' rief das Schneiderlein, 'und soll mir Kraft und Stärke geben,' holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. 'Das wird nicht bitter schmecken,' sprach er, 'aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.' Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und 20. Das tapfere Schneiderlein. An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rief das Schneiderlein, ‘und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0164" n="126"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">20.<lb/> Das tapfere Schneiderlein.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">A</hi>n einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rief das Schneiderlein, ‘und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und </p> </div> </body> </text> </TEI> [126/0164]
20.
Das tapfere Schneiderlein.
An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rief das Schneiderlein, ‘und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-01T14:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |