Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.Die Sammlung walachischer Märchen ist reichhaltig und aus reiner Quelle geschöpft: sie behält ihren Werth, wenn auch nicht überall der rechte Ton in der Erzählung getroffen ist. Wir finden hier die Mannigfaltigkeit der deutschen, mit denen sie zum Theil nah zusammen kommen, wie z. B. Allerleirauh, Sneewittchen, Tischchen deck dich sich wieder finden, aber daneben zeigen andere merkwürdige Eigenthümlichkeiten. Dahin zähle ich unter andern die gewis uralte, hier mit seltener Vollständigkeit erhaltene Sage von Bakala, der wie das deutsche Bürle (Nr 61) den Schein der Gutmüthigkeit und boshafte List auf eine seltsame Weise mischt. Das Märchen von der Wunderkuh enthält eigentlich das deutsche von Ferenand getrü (Nr 126), nur ursprünglicher und besser. Da der arme Mann keinen Pathen finden kann, so übernimmt Gott selbst die Stelle und macht dem Kinde eine Kuh zum Geschenk, von deren Nachkommen zwei durch große Wundergaben sich auszeichnen. Als der begünstigte Jüngling einmal eine schwere Aufgabe vollbringen soll, aber eingeschlafen und die Zeit zu weit vorgerückt ist, so schleudert die Kuh mit ihren Hörnern die Sonne bis zur Mittagsstunde am Himmel zurück, ein Gedanke, der an die Kühnheit von Kalevala erinnert. Einzelne auffallende Züge kommen ebenso in den deutschen Märchen vor, aber in anderer Verbindung. So läßt hier (Seite 106) wie dort (Nr 107) der von Hunger gequälte sich für ein wenig Speise die Augen ausstechen: wie dort (Nr 1) das Herz des treuen Dieners, ist hier (Seite 145) die Brust des Helden Wilisch mit drei eisernen Banden umgürtet, die hernach zerspringen: wie dort Sneewittchen (Nr 58), so ist hier (Seite 200) ein Weib weiß wie Schnee, roth wie Blut, schwarz wie Rabenfedern, und wie Sneewittchen beim strählen der Haare durch einen vergifteten Kamm betäubt wird, so steckt hier (Seite 251) eine boshafte Alte bei gleicher Die Sammlung walachischer Märchen ist reichhaltig und aus reiner Quelle geschöpft: sie behält ihren Werth, wenn auch nicht überall der rechte Ton in der Erzählung getroffen ist. Wir finden hier die Mannigfaltigkeit der deutschen, mit denen sie zum Theil nah zusammen kommen, wie z. B. Allerleirauh, Sneewittchen, Tischchen deck dich sich wieder finden, aber daneben zeigen andere merkwürdige Eigenthümlichkeiten. Dahin zähle ich unter andern die gewis uralte, hier mit seltener Vollständigkeit erhaltene Sage von Bakâla, der wie das deutsche Bürle (Nr 61) den Schein der Gutmüthigkeit und boshafte List auf eine seltsame Weise mischt. Das Märchen von der Wunderkuh enthält eigentlich das deutsche von Ferenand getrü (Nr 126), nur ursprünglicher und besser. Da der arme Mann keinen Pathen finden kann, so übernimmt Gott selbst die Stelle und macht dem Kinde eine Kuh zum Geschenk, von deren Nachkommen zwei durch große Wundergaben sich auszeichnen. Als der begünstigte Jüngling einmal eine schwere Aufgabe vollbringen soll, aber eingeschlafen und die Zeit zu weit vorgerückt ist, so schleudert die Kuh mit ihren Hörnern die Sonne bis zur Mittagsstunde am Himmel zurück, ein Gedanke, der an die Kühnheit von Kalevala erinnert. Einzelne auffallende Züge kommen ebenso in den deutschen Märchen vor, aber in anderer Verbindung. So läßt hier (Seite 106) wie dort (Nr 107) der von Hunger gequälte sich für ein wenig Speise die Augen ausstechen: wie dort (Nr 1) das Herz des treuen Dieners, ist hier (Seite 145) die Brust des Helden Wilisch mit drei eisernen Banden umgürtet, die hernach zerspringen: wie dort Sneewittchen (Nr 58), so ist hier (Seite 200) ein Weib weiß wie Schnee, roth wie Blut, schwarz wie Rabenfedern, und wie Sneewittchen beim strählen der Haare durch einen vergifteten Kamm betäubt wird, so steckt hier (Seite 251) eine boshafte Alte bei gleicher <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0059" n="LIII"/> Die Sammlung <hi rendition="#g">walachischer</hi> Märchen ist reichhaltig und aus reiner Quelle geschöpft: sie behält ihren Werth, wenn auch nicht überall der rechte Ton in der Erzählung getroffen ist. Wir finden hier die Mannigfaltigkeit der deutschen, mit denen sie zum Theil nah zusammen kommen, wie z. B. Allerleirauh, Sneewittchen, Tischchen deck dich sich wieder finden, aber daneben zeigen andere merkwürdige Eigenthümlichkeiten. Dahin zähle ich unter andern die gewis uralte, hier mit seltener Vollständigkeit erhaltene Sage von Bakâla, der wie das deutsche Bürle (Nr 61) den Schein der Gutmüthigkeit und boshafte List auf eine seltsame Weise mischt. Das Märchen von der Wunderkuh enthält eigentlich das deutsche von Ferenand getrü (Nr 126), nur ursprünglicher und besser. Da der arme Mann keinen Pathen finden kann, so übernimmt Gott selbst die Stelle und macht dem Kinde eine Kuh zum Geschenk, von deren Nachkommen zwei durch große Wundergaben sich auszeichnen. Als der begünstigte Jüngling einmal eine schwere Aufgabe vollbringen soll, aber eingeschlafen und die Zeit zu weit vorgerückt ist, so schleudert die Kuh mit ihren Hörnern die Sonne bis zur Mittagsstunde am Himmel zurück, ein Gedanke, der an die Kühnheit von Kalevala erinnert. Einzelne auffallende Züge kommen ebenso in den deutschen Märchen vor, aber in anderer Verbindung. So läßt hier (Seite 106) wie dort (Nr 107) der von Hunger gequälte sich für ein wenig Speise die Augen ausstechen: wie dort (Nr 1) das Herz des treuen Dieners, ist hier (Seite 145) die Brust des Helden Wilisch mit drei eisernen Banden umgürtet, die hernach zerspringen: wie dort Sneewittchen (Nr 58), so ist hier (Seite 200) ein Weib weiß wie Schnee, roth wie Blut, schwarz wie Rabenfedern, und wie Sneewittchen beim strählen der Haare durch einen vergifteten Kamm betäubt wird, so steckt hier (Seite 251) eine boshafte Alte bei gleicher </p> </div> </front> </text> </TEI> [LIII/0059]
Die Sammlung walachischer Märchen ist reichhaltig und aus reiner Quelle geschöpft: sie behält ihren Werth, wenn auch nicht überall der rechte Ton in der Erzählung getroffen ist. Wir finden hier die Mannigfaltigkeit der deutschen, mit denen sie zum Theil nah zusammen kommen, wie z. B. Allerleirauh, Sneewittchen, Tischchen deck dich sich wieder finden, aber daneben zeigen andere merkwürdige Eigenthümlichkeiten. Dahin zähle ich unter andern die gewis uralte, hier mit seltener Vollständigkeit erhaltene Sage von Bakâla, der wie das deutsche Bürle (Nr 61) den Schein der Gutmüthigkeit und boshafte List auf eine seltsame Weise mischt. Das Märchen von der Wunderkuh enthält eigentlich das deutsche von Ferenand getrü (Nr 126), nur ursprünglicher und besser. Da der arme Mann keinen Pathen finden kann, so übernimmt Gott selbst die Stelle und macht dem Kinde eine Kuh zum Geschenk, von deren Nachkommen zwei durch große Wundergaben sich auszeichnen. Als der begünstigte Jüngling einmal eine schwere Aufgabe vollbringen soll, aber eingeschlafen und die Zeit zu weit vorgerückt ist, so schleudert die Kuh mit ihren Hörnern die Sonne bis zur Mittagsstunde am Himmel zurück, ein Gedanke, der an die Kühnheit von Kalevala erinnert. Einzelne auffallende Züge kommen ebenso in den deutschen Märchen vor, aber in anderer Verbindung. So läßt hier (Seite 106) wie dort (Nr 107) der von Hunger gequälte sich für ein wenig Speise die Augen ausstechen: wie dort (Nr 1) das Herz des treuen Dieners, ist hier (Seite 145) die Brust des Helden Wilisch mit drei eisernen Banden umgürtet, die hernach zerspringen: wie dort Sneewittchen (Nr 58), so ist hier (Seite 200) ein Weib weiß wie Schnee, roth wie Blut, schwarz wie Rabenfedern, und wie Sneewittchen beim strählen der Haare durch einen vergifteten Kamm betäubt wird, so steckt hier (Seite 251) eine boshafte Alte bei gleicher
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