knorz in ihrem Munde aber ist ein Schlafkunz oder Schlafapfel. Die Sage von der güldnen Feder, die der Vogel fallen läßt, und wes- halb der König in alle Welt aussendet, ist keine andere, als die vom König Mark im Tristan, dem der Vogel das goldne Haar der Königstochter bringt, nach welcher er nun eine Sehnsucht empfindet. Daß Loki am Rie- sen-Adler hängen bleibt, verstehen wir besser durch das Märchen von der Goldgans, an der Jungfrauen und Männer festhangen, die sie berühren; in dem bösen Goldschmied, dem redenden Vogel und dem Herz-Essen, wer erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von ihm und seiner Jugend theilt vorliegender Band andere riesenmäßige, zum Theil das, was die Lieder noch wissen, überragende Sa- gen mit, welche namentlich bei der schwieri- gen Deutung des zu theilenden Horts will- komene Hilfe leisten. Nichts ist bewährender und zugleich sicherer, als was aus zweien Quellen wieder zusammenfließt, die früh von einander getrennt, in eignem Bette gegangen sind; in diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren
knorz in ihrem Munde aber iſt ein Schlafkunz oder Schlafapfel. Die Sage von der guͤldnen Feder, die der Vogel fallen laͤßt, und wes- halb der Koͤnig in alle Welt ausſendet, iſt keine andere, als die vom Koͤnig Mark im Triſtan, dem der Vogel das goldne Haar der Koͤnigstochter bringt, nach welcher er nun eine Sehnſucht empfindet. Daß Loki am Rie- ſen-Adler haͤngen bleibt, verſtehen wir beſſer durch das Maͤrchen von der Goldgans, an der Jungfrauen und Maͤnner feſthangen, die ſie beruͤhren; in dem boͤſen Goldſchmied, dem redenden Vogel und dem Herz-Eſſen, wer erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von ihm und ſeiner Jugend theilt vorliegender Band andere rieſenmaͤßige, zum Theil das, was die Lieder noch wiſſen, uͤberragende Sa- gen mit, welche namentlich bei der ſchwieri- gen Deutung des zu theilenden Horts will- komene Hilfe leiſten. Nichts iſt bewaͤhrender und zugleich ſicherer, als was aus zweien Quellen wieder zuſammenfließt, die fruͤh von einander getrennt, in eignem Bette gegangen ſind; in dieſen Volks-Maͤrchen liegt lauter urdeutſcher Mythus, den man fuͤr verloren
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0012"n="VII"/>
knorz in ihrem Munde aber iſt ein Schlafkunz<lb/>
oder Schlafapfel. Die Sage von der guͤldnen<lb/>
Feder, die der Vogel fallen laͤßt, und wes-<lb/>
halb der Koͤnig in alle Welt ausſendet, iſt<lb/>
keine andere, als die vom Koͤnig Mark im<lb/>
Triſtan, dem der Vogel das goldne Haar der<lb/>
Koͤnigstochter bringt, nach welcher er nun<lb/>
eine Sehnſucht empfindet. Daß Loki am Rie-<lb/>ſen-Adler haͤngen bleibt, verſtehen wir beſſer<lb/>
durch das Maͤrchen von der Goldgans, an<lb/>
der Jungfrauen und Maͤnner feſthangen, die<lb/>ſie beruͤhren; in dem boͤſen Goldſchmied, dem<lb/>
redenden Vogel und dem Herz-Eſſen, wer<lb/>
erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von<lb/>
ihm und ſeiner Jugend theilt vorliegender<lb/>
Band andere rieſenmaͤßige, zum Theil das,<lb/>
was die Lieder noch wiſſen, uͤberragende Sa-<lb/>
gen mit, welche namentlich bei der ſchwieri-<lb/>
gen Deutung des zu theilenden Horts will-<lb/>
komene Hilfe leiſten. Nichts iſt bewaͤhrender<lb/>
und zugleich ſicherer, als was aus zweien<lb/>
Quellen wieder zuſammenfließt, die fruͤh von<lb/>
einander getrennt, in eignem Bette gegangen<lb/>ſind; in dieſen Volks-Maͤrchen liegt lauter<lb/>
urdeutſcher Mythus, den man fuͤr verloren<lb/></p></div></front></text></TEI>
[VII/0012]
knorz in ihrem Munde aber iſt ein Schlafkunz
oder Schlafapfel. Die Sage von der guͤldnen
Feder, die der Vogel fallen laͤßt, und wes-
halb der Koͤnig in alle Welt ausſendet, iſt
keine andere, als die vom Koͤnig Mark im
Triſtan, dem der Vogel das goldne Haar der
Koͤnigstochter bringt, nach welcher er nun
eine Sehnſucht empfindet. Daß Loki am Rie-
ſen-Adler haͤngen bleibt, verſtehen wir beſſer
durch das Maͤrchen von der Goldgans, an
der Jungfrauen und Maͤnner feſthangen, die
ſie beruͤhren; in dem boͤſen Goldſchmied, dem
redenden Vogel und dem Herz-Eſſen, wer
erkennt nicht Sigurds leibhafte Fabel? Von
ihm und ſeiner Jugend theilt vorliegender
Band andere rieſenmaͤßige, zum Theil das,
was die Lieder noch wiſſen, uͤberragende Sa-
gen mit, welche namentlich bei der ſchwieri-
gen Deutung des zu theilenden Horts will-
komene Hilfe leiſten. Nichts iſt bewaͤhrender
und zugleich ſicherer, als was aus zweien
Quellen wieder zuſammenfließt, die fruͤh von
einander getrennt, in eignem Bette gegangen
ſind; in dieſen Volks-Maͤrchen liegt lauter
urdeutſcher Mythus, den man fuͤr verloren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/12>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.