und auszumachen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzten." "Ei, sagte die Alte, das ist so schwer nicht, du mußt nur den Wein nicht trinken, den dir die eine Abends bringt, und mußt thun, als wärst du fest eingeschlafen." Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach: "wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den Zwölfen dann nachschleichen." Wie der Soldat so guten Rath bekommen hatte, wards Ernst bei ihm, so daß er sich ein Herz faß- te, vor den König ging, und sich als Freier mel- dete. Er ward so gut aufgenommen wie die an- dern auch, und wurden ihm königliche Kleider an- gethan. Abends zur Schlafenszeit wurde er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette ge- hen wollte, kam die älteste und brachte ihm einen Becher Wein, aber er schüttete ihn heimlich aus, legte sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen, wie im tiefsten Schlaf. Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten, und die älteste sprach: "der hätte auch sein Leben sparen können!" Darnach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus, putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz. Nur die jüngste sagte: "ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zu Muthe, gewiß widerfährt uns ein Unglück." -- "Du Schneegans, sagte die älteste, du fürchtest
Kindermärchen II. Q
und auszumachen, wo die Koͤnigstoͤchter ihre Schuhe vertanzten.“ „Ei, ſagte die Alte, das iſt ſo ſchwer nicht, du mußt nur den Wein nicht trinken, den dir die eine Abends bringt, und mußt thun, als waͤrſt du feſt eingeſchlafen.“ Darauf gab ſie ihm ein Maͤntelchen und ſprach: „wenn du das umhaͤngſt, ſo biſt du unſichtbar und kannſt den Zwoͤlfen dann nachſchleichen.“ Wie der Soldat ſo guten Rath bekommen hatte, wards Ernſt bei ihm, ſo daß er ſich ein Herz faß- te, vor den Koͤnig ging, und ſich als Freier mel- dete. Er ward ſo gut aufgenommen wie die an- dern auch, und wurden ihm koͤnigliche Kleider an- gethan. Abends zur Schlafenszeit wurde er in das Vorzimmer gefuͤhrt, und als er zu Bette ge- hen wollte, kam die aͤlteſte und brachte ihm einen Becher Wein, aber er ſchuͤttete ihn heimlich aus, legte ſich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu ſchnarchen, wie im tiefſten Schlaf. Das hoͤrten die zwoͤlf Koͤnigstoͤchter, lachten, und die aͤlteſte ſprach: „der haͤtte auch ſein Leben ſparen koͤnnen!“ Darnach ſtanden ſie auf, oͤffneten Schraͤnke, Kiſten und Kaſten, und holten praͤchtige Kleider heraus, putzten ſich vor den Spiegeln, ſprangen herum und freuten ſich auf den Tanz. Nur die juͤngſte ſagte: „ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir iſt ſo wunderlich zu Muthe, gewiß widerfaͤhrt uns ein Ungluͤck.“ — „Du Schneegans, ſagte die aͤlteſte, du fuͤrchteſt
Kindermärchen II. Q
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und auszumachen, wo die Koͤnigstoͤchter ihre
Schuhe vertanzten.“ „Ei, ſagte die Alte, das
iſt ſo ſchwer nicht, du mußt nur den Wein nicht
trinken, den dir die eine Abends bringt, und
mußt thun, als waͤrſt du feſt eingeſchlafen.“
Darauf gab ſie ihm ein Maͤntelchen und ſprach:
„wenn du das umhaͤngſt, ſo biſt du unſichtbar
und kannſt den Zwoͤlfen dann nachſchleichen.“
Wie der Soldat ſo guten Rath bekommen hatte,
wards Ernſt bei ihm, ſo daß er ſich ein Herz faß-
te, vor den Koͤnig ging, und ſich als Freier mel-
dete. Er ward ſo gut aufgenommen wie die an-
dern auch, und wurden ihm koͤnigliche Kleider an-
gethan. Abends zur Schlafenszeit wurde er in
das Vorzimmer gefuͤhrt, und als er zu Bette ge-
hen wollte, kam die aͤlteſte und brachte ihm einen
Becher Wein, aber er ſchuͤttete ihn heimlich aus,
legte ſich nieder, und als er ein Weilchen gelegen
hatte, fing er an zu ſchnarchen, wie im tiefſten
Schlaf. Das hoͤrten die zwoͤlf Koͤnigstoͤchter,
lachten, und die aͤlteſte ſprach: „der haͤtte auch
ſein Leben ſparen koͤnnen!“ Darnach ſtanden ſie
auf, oͤffneten Schraͤnke, Kiſten und Kaſten, und
holten praͤchtige Kleider heraus, putzten ſich vor
den Spiegeln, ſprangen herum und freuten ſich
auf den Tanz. Nur die juͤngſte ſagte: „ich weiß
nicht, ihr freut euch, aber mir iſt ſo wunderlich zu
Muthe, gewiß widerfaͤhrt uns ein Ungluͤck.“ —
„Du Schneegans, ſagte die aͤlteſte, du fuͤrchteſt
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/262>, abgerufen am 23.12.2024.
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