will gehen und unbemerkt etwas zu essen anders- wo ausbringen." Da ging sie hin, kam wieder und hatte zwei Stückchen Brot eingebracht; das aßen sie mit einander, es war aber zu wenig, um den Hunger zu stillen. Darum sprach die Mut- ter nach etlichen Stunden abermals zu ihnen: ihr müsset doch sterben, denn wir müssen sonst verschmachten." Darauf antworteten sie: "liebe Mutter, wir wollen uns niederlegen und schla- fen, und nicht eher wieder aufstehen, als bis der jüngste Tag kommt." Da legten sie sich hin und schliefen einen tiefen Schlaf, aus dem sie nie- mand erwecken konnte, die Mutter aber ist weg- gekommen und weiß kein Mensch, wo sie geblie- ben ist.
58. Das Eselein.
Es lebte einmal ein König und eine Königin, die waren reich, und hatten alles, was sie sich wünschten, nur keine Kinder. Darüber klagte sie Tag und Nacht und sprach: "ich bin wie ein Acker, auf dem nichts wächst." Endlich erfüllte Gott ihre Wünsche, als das Kind aber zur Welt kam, sah's nicht aus wie ein Menschenkind, sondern war ein junges Eselein. Wie die Mutter das erblickte, fing ihr Jammer und Geschrei erst recht an, sie hätte lieber gar kein Kind gehabt, als einen Esel,
will gehen und unbemerkt etwas zu eſſen anders- wo ausbringen.“ Da ging ſie hin, kam wieder und hatte zwei Stuͤckchen Brot eingebracht; das aßen ſie mit einander, es war aber zu wenig, um den Hunger zu ſtillen. Darum ſprach die Mut- ter nach etlichen Stunden abermals zu ihnen: ihr muͤſſet doch ſterben, denn wir muͤſſen ſonſt verſchmachten.“ Darauf antworteten ſie: „liebe Mutter, wir wollen uns niederlegen und ſchla- fen, und nicht eher wieder aufſtehen, als bis der juͤngſte Tag kommt.“ Da legten ſie ſich hin und ſchliefen einen tiefen Schlaf, aus dem ſie nie- mand erwecken konnte, die Mutter aber iſt weg- gekommen und weiß kein Menſch, wo ſie geblie- ben iſt.
58. Das Eſelein.
Es lebte einmal ein Koͤnig und eine Koͤnigin, die waren reich, und hatten alles, was ſie ſich wuͤnſchten, nur keine Kinder. Daruͤber klagte ſie Tag und Nacht und ſprach: „ich bin wie ein Acker, auf dem nichts waͤchſt.“ Endlich erfuͤllte Gott ihre Wuͤnſche, als das Kind aber zur Welt kam, ſah’s nicht aus wie ein Menſchenkind, ſondern war ein junges Eſelein. Wie die Mutter das erblickte, fing ihr Jammer und Geſchrei erſt recht an, ſie haͤtte lieber gar kein Kind gehabt, als einen Eſel,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0297"n="276"/>
will gehen und unbemerkt etwas zu eſſen anders-<lb/>
wo ausbringen.“ Da ging ſie hin, kam wieder<lb/>
und hatte zwei Stuͤckchen Brot eingebracht; das<lb/>
aßen ſie mit einander, es war aber zu wenig, um<lb/>
den Hunger zu ſtillen. Darum ſprach die Mut-<lb/>
ter nach etlichen Stunden abermals zu ihnen:<lb/>
ihr muͤſſet doch ſterben, denn wir muͤſſen ſonſt<lb/>
verſchmachten.“ Darauf antworteten ſie: „liebe<lb/>
Mutter, wir wollen uns niederlegen und ſchla-<lb/>
fen, und nicht eher wieder aufſtehen, als bis der<lb/>
juͤngſte Tag kommt.“ Da legten ſie ſich hin und<lb/>ſchliefen einen tiefen Schlaf, aus dem ſie nie-<lb/>
mand erwecken konnte, die Mutter aber iſt weg-<lb/>
gekommen und weiß kein Menſch, wo ſie geblie-<lb/>
ben iſt.</p></div><lb/><divn="1"><head>58.<lb/><hirendition="#g">Das Eſelein</hi>.</head><lb/><p>Es lebte einmal ein Koͤnig und eine Koͤnigin,<lb/>
die waren reich, und hatten alles, was ſie ſich<lb/>
wuͤnſchten, nur keine Kinder. Daruͤber klagte ſie<lb/>
Tag und Nacht und ſprach: „ich bin wie ein Acker,<lb/>
auf dem nichts waͤchſt.“ Endlich erfuͤllte Gott ihre<lb/>
Wuͤnſche, als das Kind aber zur Welt kam, ſah’s<lb/>
nicht aus wie ein Menſchenkind, ſondern war ein<lb/>
junges Eſelein. Wie die Mutter das erblickte,<lb/>
fing ihr Jammer und Geſchrei erſt recht an, ſie<lb/>
haͤtte lieber gar kein Kind gehabt, als einen Eſel,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[276/0297]
will gehen und unbemerkt etwas zu eſſen anders-
wo ausbringen.“ Da ging ſie hin, kam wieder
und hatte zwei Stuͤckchen Brot eingebracht; das
aßen ſie mit einander, es war aber zu wenig, um
den Hunger zu ſtillen. Darum ſprach die Mut-
ter nach etlichen Stunden abermals zu ihnen:
ihr muͤſſet doch ſterben, denn wir muͤſſen ſonſt
verſchmachten.“ Darauf antworteten ſie: „liebe
Mutter, wir wollen uns niederlegen und ſchla-
fen, und nicht eher wieder aufſtehen, als bis der
juͤngſte Tag kommt.“ Da legten ſie ſich hin und
ſchliefen einen tiefen Schlaf, aus dem ſie nie-
mand erwecken konnte, die Mutter aber iſt weg-
gekommen und weiß kein Menſch, wo ſie geblie-
ben iſt.
58.
Das Eſelein.
Es lebte einmal ein Koͤnig und eine Koͤnigin,
die waren reich, und hatten alles, was ſie ſich
wuͤnſchten, nur keine Kinder. Daruͤber klagte ſie
Tag und Nacht und ſprach: „ich bin wie ein Acker,
auf dem nichts waͤchſt.“ Endlich erfuͤllte Gott ihre
Wuͤnſche, als das Kind aber zur Welt kam, ſah’s
nicht aus wie ein Menſchenkind, ſondern war ein
junges Eſelein. Wie die Mutter das erblickte,
fing ihr Jammer und Geſchrei erſt recht an, ſie
haͤtte lieber gar kein Kind gehabt, als einen Eſel,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/297>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.