sprach: "Vater, das Reich ist mein, denn ich bin so faul, sollt' ich aufgehenkt werden und hätte den Strick schon um den Hals, und einer gäb' mir ein scharf Messer in die Hand, damit ich den Strick zerschneiden dürfte, so ließ ich mich eher henken, eh' ich meine Hand aufhübe zum Strick." Wie der Vater das hörte: sprach er: "Du sollst der König seyn."
66. Die heilige Frau Kummerniß.
Er war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wun- derschön, so daß es ihr Vater nicht zugeben und sie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieser Noth flehte sie Gott an, daß er ihr einen Bart wach- sen lassen sollte, welches alsogleich geschah; aber der König ergrimmte und ließ sie an's Kreutz schlagen, da ward sie eine Heilige.
Nun geschah' es, daß ein gar armer Spiel- mann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß stand, kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß dieser zuerst ihre Unschuld anerkannte, und das Bild, das mit güldnen Pantoffeln angethan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilgrim zu gut käme. Der neigte sich dankbar und nahm die Gabe.
Bald aber wurde der Goldschuh in der Kir-
ſprach: „Vater, das Reich iſt mein, denn ich bin ſo faul, ſollt’ ich aufgehenkt werden und haͤtte den Strick ſchon um den Hals, und einer gaͤb’ mir ein ſcharf Meſſer in die Hand, damit ich den Strick zerſchneiden duͤrfte, ſo ließ ich mich eher henken, eh’ ich meine Hand aufhuͤbe zum Strick.“ Wie der Vater das hoͤrte: ſprach er: „Du ſollſt der Koͤnig ſeyn.“
66. Die heilige Frau Kummerniß.
Er war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wun- derſchoͤn, ſo daß es ihr Vater nicht zugeben und ſie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieſer Noth flehte ſie Gott an, daß er ihr einen Bart wach- ſen laſſen ſollte, welches alſogleich geſchah; aber der Koͤnig ergrimmte und ließ ſie an’s Kreutz ſchlagen, da ward ſie eine Heilige.
Nun geſchah’ es, daß ein gar armer Spiel- mann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß ſtand, kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß dieſer zuerſt ihre Unſchuld anerkannte, und das Bild, das mit guͤldnen Pantoffeln angethan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilgrim zu gut kaͤme. Der neigte ſich dankbar und nahm die Gabe.
Bald aber wurde der Goldſchuh in der Kir-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0314"n="293"/>ſprach: „Vater, das Reich iſt mein, denn ich<lb/>
bin ſo faul, ſollt’ ich aufgehenkt werden und haͤtte<lb/>
den Strick ſchon um den Hals, und einer gaͤb’<lb/>
mir ein ſcharf Meſſer in die Hand, damit ich den<lb/>
Strick zerſchneiden duͤrfte, ſo ließ ich mich eher<lb/>
henken, eh’ ich meine Hand aufhuͤbe zum Strick.“<lb/>
Wie der Vater das hoͤrte: ſprach er: „Du ſollſt<lb/>
der Koͤnig ſeyn.“</p></div><lb/><divn="1"><head>66.<lb/><hirendition="#g">Die heilige Frau Kummerniß</hi>.</head><lb/><p>Er war einmal eine fromme Jungfrau, die<lb/>
gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wun-<lb/>
derſchoͤn, ſo daß es ihr Vater nicht zugeben und<lb/>ſie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieſer Noth<lb/>
flehte ſie Gott an, daß er ihr einen Bart wach-<lb/>ſen laſſen ſollte, welches alſogleich geſchah; aber<lb/>
der Koͤnig ergrimmte und ließ ſie an’s Kreutz<lb/>ſchlagen, da ward ſie eine Heilige.</p><lb/><p>Nun geſchah’ es, daß ein gar armer Spiel-<lb/>
mann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß ſtand,<lb/>
kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß<lb/>
dieſer zuerſt ihre Unſchuld anerkannte, und das<lb/>
Bild, das mit guͤldnen Pantoffeln angethan war,<lb/>
ließ einen davon los- und herunterfallen, damit<lb/>
er dem Pilgrim zu gut kaͤme. Der neigte ſich<lb/>
dankbar und nahm die Gabe.</p><lb/><p>Bald aber wurde der Goldſchuh in der Kir-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[293/0314]
ſprach: „Vater, das Reich iſt mein, denn ich
bin ſo faul, ſollt’ ich aufgehenkt werden und haͤtte
den Strick ſchon um den Hals, und einer gaͤb’
mir ein ſcharf Meſſer in die Hand, damit ich den
Strick zerſchneiden duͤrfte, ſo ließ ich mich eher
henken, eh’ ich meine Hand aufhuͤbe zum Strick.“
Wie der Vater das hoͤrte: ſprach er: „Du ſollſt
der Koͤnig ſeyn.“
66.
Die heilige Frau Kummerniß.
Er war einmal eine fromme Jungfrau, die
gelobte Gott, nicht zu heirathen, und war wun-
derſchoͤn, ſo daß es ihr Vater nicht zugeben und
ſie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieſer Noth
flehte ſie Gott an, daß er ihr einen Bart wach-
ſen laſſen ſollte, welches alſogleich geſchah; aber
der Koͤnig ergrimmte und ließ ſie an’s Kreutz
ſchlagen, da ward ſie eine Heilige.
Nun geſchah’ es, daß ein gar armer Spiel-
mann in die Kirche kam, wo ihr Bildniß ſtand,
kniete davor nieder, da freute es die Heilige, daß
dieſer zuerſt ihre Unſchuld anerkannte, und das
Bild, das mit guͤldnen Pantoffeln angethan war,
ließ einen davon los- und herunterfallen, damit
er dem Pilgrim zu gut kaͤme. Der neigte ſich
dankbar und nahm die Gabe.
Bald aber wurde der Goldſchuh in der Kir-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/314>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.