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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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nichts von einander gewußt, sondern (wie die heil. 3 Könige
auf eine Reise) auf eine Kunst verfallen seyn sollen. Ueber
den Kaiser oder Papst zu streiten, wäre vorerst ganz überflüssig,
die Veränderung, welche sich Puschmann in der zweiten Aufl.
seines Werkes erlaubt hat, (wo er statt Otto 1. gerade Otto 2.
setzt,) bleibt bei ihrer Willkürlichkeit problematisch. Paris ist
zwar schon im 12ten Jahrhundert Universität gewesen, (was
haben aber hier Papst und deutscher Kaiser zu schossen?) Pa-
via es erst im 14ten Jahrh. geworden. Nothwendig wäre es
gewesen, früher in den Mainzer Archiven genau nachzuspüren,
die Meister berufen sich bestimmt auf ein altes in der Jo-
hanniterkirche angekettetes Buch 104), auch soll daselbst der
von Otto gegebene goldene Cranz liegen.

Meine Meinung ist: das Aufkommen des Meistergesangs
früher anzusetzen, wie ich oben gethan, hat gar zu viel gegen
sich, es ist kaum glaublich, daß schon zu Gottfrieds v. Str.
Zeit die alsdann vor dem Veldeck zu setzenden Dichter verschol-
len gewesen. Spangenberg weiß zwar, daß vor und nach 1200
deutsche Dichter geblüht, und hat gewissermaßen recht, woher
hat er: daß Klinsor so viel Dichter überwunden, als Wochen
im Jahre sind? Andrerseits mangelt es der Erzählung nicht
an innerer Wahrscheinlichkeit, besonders wenn man sie ins
Ende des 12ten Jahrhunderts verlegt, wohin die meisten Na-
men reichen, wo freie Reden gegen die Geistlichkeit in allen
Gedichten stehen und eine Prüfung der lautgewordenen Mei-
nung, eine Verwendung des Kaisers in den Sitten der Zeit ist,
ihre Lossprechung und Bestätigung könnte die nachher sichtba-

104) Cf. Tenzel 1697. 420. Jetzo ist es wohl für immer zu spät
geworden, Herr Präsident Bodmann hat mir bei aller Bereit-
willigkeit aus seinen reichen Sammlungen keine Auskunft zu
geben vermocht. Vogt in s. Gesch. von Mainz 1. 44. redet
von den viel ältern Kirchengesängen, die zum Theil noch im
Dom vorhanden seyn sollen.

nichts von einander gewußt, ſondern (wie die heil. 3 Koͤnige
auf eine Reiſe) auf eine Kunſt verfallen ſeyn ſollen. Ueber
den Kaiſer oder Papſt zu ſtreiten, waͤre vorerſt ganz uͤberfluͤſſig,
die Veraͤnderung, welche ſich Puſchmann in der zweiten Aufl.
ſeines Werkes erlaubt hat, (wo er ſtatt Otto 1. gerade Otto 2.
ſetzt,) bleibt bei ihrer Willkuͤrlichkeit problematiſch. Paris iſt
zwar ſchon im 12ten Jahrhundert Univerſitaͤt geweſen, (was
haben aber hier Papſt und deutſcher Kaiſer zu ſchoſſen?) Pa-
via es erſt im 14ten Jahrh. geworden. Nothwendig waͤre es
geweſen, fruͤher in den Mainzer Archiven genau nachzuſpuͤren,
die Meiſter berufen ſich beſtimmt auf ein altes in der Jo-
hanniterkirche angekettetes Buch 104), auch ſoll daſelbſt der
von Otto gegebene goldene Cranz liegen.

Meine Meinung iſt: das Aufkommen des Meiſtergeſangs
fruͤher anzuſetzen, wie ich oben gethan, hat gar zu viel gegen
ſich, es iſt kaum glaublich, daß ſchon zu Gottfrieds v. Str.
Zeit die alsdann vor dem Veldeck zu ſetzenden Dichter verſchol-
len geweſen. Spangenberg weiß zwar, daß vor und nach 1200
deutſche Dichter gebluͤht, und hat gewiſſermaßen recht, woher
hat er: daß Klinſor ſo viel Dichter uͤberwunden, als Wochen
im Jahre ſind? Andrerſeits mangelt es der Erzaͤhlung nicht
an innerer Wahrſcheinlichkeit, beſonders wenn man ſie ins
Ende des 12ten Jahrhunderts verlegt, wohin die meiſten Na-
men reichen, wo freie Reden gegen die Geiſtlichkeit in allen
Gedichten ſtehen und eine Pruͤfung der lautgewordenen Mei-
nung, eine Verwendung des Kaiſers in den Sitten der Zeit iſt,
ihre Losſprechung und Beſtaͤtigung koͤnnte die nachher ſichtba-

104) Cf. Tenzel 1697. 420. Jetzo iſt es wohl fuͤr immer zu ſpaͤt
geworden, Herr Praͤſident Bodmann hat mir bei aller Bereit-
willigkeit aus ſeinen reichen Sammlungen keine Auskunft zu
geben vermocht. Vogt in ſ. Geſch. von Mainz 1. 44. redet
von den viel aͤltern Kirchengeſaͤngen, die zum Theil noch im
Dom vorhanden ſeyn ſollen.
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[118/0128] nichts von einander gewußt, ſondern (wie die heil. 3 Koͤnige auf eine Reiſe) auf eine Kunſt verfallen ſeyn ſollen. Ueber den Kaiſer oder Papſt zu ſtreiten, waͤre vorerſt ganz uͤberfluͤſſig, die Veraͤnderung, welche ſich Puſchmann in der zweiten Aufl. ſeines Werkes erlaubt hat, (wo er ſtatt Otto 1. gerade Otto 2. ſetzt,) bleibt bei ihrer Willkuͤrlichkeit problematiſch. Paris iſt zwar ſchon im 12ten Jahrhundert Univerſitaͤt geweſen, (was haben aber hier Papſt und deutſcher Kaiſer zu ſchoſſen?) Pa- via es erſt im 14ten Jahrh. geworden. Nothwendig waͤre es geweſen, fruͤher in den Mainzer Archiven genau nachzuſpuͤren, die Meiſter berufen ſich beſtimmt auf ein altes in der Jo- hanniterkirche angekettetes Buch 104), auch ſoll daſelbſt der von Otto gegebene goldene Cranz liegen. Meine Meinung iſt: das Aufkommen des Meiſtergeſangs fruͤher anzuſetzen, wie ich oben gethan, hat gar zu viel gegen ſich, es iſt kaum glaublich, daß ſchon zu Gottfrieds v. Str. Zeit die alsdann vor dem Veldeck zu ſetzenden Dichter verſchol- len geweſen. Spangenberg weiß zwar, daß vor und nach 1200 deutſche Dichter gebluͤht, und hat gewiſſermaßen recht, woher hat er: daß Klinſor ſo viel Dichter uͤberwunden, als Wochen im Jahre ſind? Andrerſeits mangelt es der Erzaͤhlung nicht an innerer Wahrſcheinlichkeit, beſonders wenn man ſie ins Ende des 12ten Jahrhunderts verlegt, wohin die meiſten Na- men reichen, wo freie Reden gegen die Geiſtlichkeit in allen Gedichten ſtehen und eine Pruͤfung der lautgewordenen Mei- nung, eine Verwendung des Kaiſers in den Sitten der Zeit iſt, ihre Losſprechung und Beſtaͤtigung koͤnnte die nachher ſichtba- 104) Cf. Tenzel 1697. 420. Jetzo iſt es wohl fuͤr immer zu ſpaͤt geworden, Herr Praͤſident Bodmann hat mir bei aller Bereit- willigkeit aus ſeinen reichen Sammlungen keine Auskunft zu geben vermocht. Vogt in ſ. Geſch. von Mainz 1. 44. redet von den viel aͤltern Kirchengeſaͤngen, die zum Theil noch im Dom vorhanden ſeyn ſollen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/128>, abgerufen am 21.11.2024.