Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Auge sieht, ohne sie je zu betrachten; und in das Reich
des menschlichen Geistes, der sich gleichsam von der ersten
Frau abscheidet, als deren hohe Züge ihm nach und nach
fremd und seltsam däuchen. Man kann die Naturpoesie
das Leben in der reinen Handlung selbst nennen, ein lebendi-
ges Buch, wahrer Geschichte voll, das man auf jedem
Blatt mag anfangen zu lesen und zu verstehen, nimmer aber
ausliest noch durchversteht. Die Kunstpoesieist eine Ar-
beit des Lebens und schon im ersten Keim philosophischer Art.

In den Heldengesängen reicht nur noch ein Zweig aus
der alten Naturpoesie in unser Land herüber, die Freude,
das Eigenthum des Volks an seinen geliebten Königen
und Herren muß sich, so zu sagen, von selber an und
fortgesungen haben. Ueber der Art, wie das zugegan-
gen, liegt der Schleier eines Geheimnisses gedeckt, an
das man Glauben haben soll. Denn die Leugner, die
sich dafür lieber mit einer dürren Wahrscheinlichkeit
behelfen wollen, bringen Systeme auf, welche man
mit Wahrheit widerlegen kann und nach denen ih-
nen nichts übrig bleibt. Diese Unbewußtheit der Tiefe
ist es auch, was die alten großen Lieder auf die spätesten
des Volks geerbt haben. Alle sagen ein Leben, ein Freuen
und Leiden aus 1), das an sich höchst klar vor uns liegt,
allein sie thun es so, in Gleichnissen mehr denn in Wor-
ten, daß außer der Klarheit noch eine reine tiefe Bedeu-
tung erscheint. Vielleicht ist es eine verschiedene Weise,
worin wir jetzo die alte Poesie genießen. Die Vorfah-

1) In des Nibelungenlieds hertlichem Eingang ist die vollständige
Idee des Epos ausgesprochen.

Auge ſieht, ohne ſie je zu betrachten; und in das Reich
des menſchlichen Geiſtes, der ſich gleichſam von der erſten
Frau abſcheidet, als deren hohe Zuͤge ihm nach und nach
fremd und ſeltſam daͤuchen. Man kann die Naturpoeſie
das Leben in der reinen Handlung ſelbſt nennen, ein lebendi-
ges Buch, wahrer Geſchichte voll, das man auf jedem
Blatt mag anfangen zu leſen und zu verſtehen, nimmer aber
auslieſt noch durchverſteht. Die Kunſtpoeſieiſt eine Ar-
beit des Lebens und ſchon im erſten Keim philoſophiſcher Art.

In den Heldengeſaͤngen reicht nur noch ein Zweig aus
der alten Naturpoeſie in unſer Land heruͤber, die Freude,
das Eigenthum des Volks an ſeinen geliebten Koͤnigen
und Herren muß ſich, ſo zu ſagen, von ſelber an und
fortgeſungen haben. Ueber der Art, wie das zugegan-
gen, liegt der Schleier eines Geheimniſſes gedeckt, an
das man Glauben haben ſoll. Denn die Leugner, die
ſich dafuͤr lieber mit einer duͤrren Wahrſcheinlichkeit
behelfen wollen, bringen Syſteme auf, welche man
mit Wahrheit widerlegen kann und nach denen ih-
nen nichts uͤbrig bleibt. Dieſe Unbewußtheit der Tiefe
iſt es auch, was die alten großen Lieder auf die ſpaͤteſten
des Volks geerbt haben. Alle ſagen ein Leben, ein Freuen
und Leiden aus 1), das an ſich hoͤchſt klar vor uns liegt,
allein ſie thun es ſo, in Gleichniſſen mehr denn in Wor-
ten, daß außer der Klarheit noch eine reine tiefe Bedeu-
tung erſcheint. Vielleicht iſt es eine verſchiedene Weiſe,
worin wir jetzo die alte Poeſie genießen. Die Vorfah-

1) In des Nibelungenlieds hertlichem Eingang iſt die vollſtaͤndige
Idee des Epos ausgeſprochen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="preface" n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="6"/>
Auge &#x017F;ieht, ohne &#x017F;ie je zu betrachten; und in das Reich<lb/>
des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes, der &#x017F;ich gleich&#x017F;am von der er&#x017F;ten<lb/>
Frau ab&#x017F;cheidet, als deren hohe Zu&#x0364;ge ihm nach und nach<lb/>
fremd und &#x017F;elt&#x017F;am da&#x0364;uchen. Man kann die Naturpoe&#x017F;ie<lb/>
das Leben in der reinen Handlung &#x017F;elb&#x017F;t nennen, ein lebendi-<lb/>
ges Buch, wahrer Ge&#x017F;chichte voll, das man auf jedem<lb/>
Blatt mag anfangen zu le&#x017F;en und zu ver&#x017F;tehen, nimmer aber<lb/>
auslie&#x017F;t noch durchver&#x017F;teht. Die Kun&#x017F;tpoe&#x017F;iei&#x017F;t eine Ar-<lb/>
beit des Lebens und &#x017F;chon im er&#x017F;ten Keim philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Art.</p><lb/>
          <p>In den Heldenge&#x017F;a&#x0364;ngen reicht nur noch ein Zweig aus<lb/>
der alten Naturpoe&#x017F;ie in un&#x017F;er Land heru&#x0364;ber, die Freude,<lb/>
das Eigenthum des Volks an &#x017F;einen geliebten Ko&#x0364;nigen<lb/>
und Herren muß &#x017F;ich, &#x017F;o zu &#x017F;agen, von &#x017F;elber an und<lb/>
fortge&#x017F;ungen haben. Ueber der Art, wie das zugegan-<lb/>
gen, liegt der Schleier eines Geheimni&#x017F;&#x017F;es gedeckt, an<lb/>
das man Glauben haben &#x017F;oll. Denn die Leugner, die<lb/>
&#x017F;ich dafu&#x0364;r lieber mit einer du&#x0364;rren Wahr&#x017F;cheinlichkeit<lb/>
behelfen wollen, bringen Sy&#x017F;teme auf, welche man<lb/>
mit Wahrheit widerlegen kann und nach denen ih-<lb/>
nen nichts u&#x0364;brig bleibt. Die&#x017F;e Unbewußtheit der Tiefe<lb/>
i&#x017F;t es auch, was die alten großen Lieder auf die &#x017F;pa&#x0364;te&#x017F;ten<lb/>
des Volks geerbt haben. Alle &#x017F;agen ein Leben, ein Freuen<lb/>
und Leiden aus <note place="foot" n="1)">In des Nibelungenlieds hertlichem Eingang i&#x017F;t die voll&#x017F;ta&#x0364;ndige<lb/>
Idee des Epos ausge&#x017F;prochen.</note>, das an &#x017F;ich ho&#x0364;ch&#x017F;t klar vor uns liegt,<lb/>
allein &#x017F;ie thun es &#x017F;o, in Gleichni&#x017F;&#x017F;en mehr denn in Wor-<lb/>
ten, daß außer der Klarheit noch eine reine tiefe Bedeu-<lb/>
tung er&#x017F;cheint. Vielleicht i&#x017F;t es eine ver&#x017F;chiedene Wei&#x017F;e,<lb/>
worin wir jetzo die alte Poe&#x017F;ie genießen. Die Vorfah-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0016] Auge ſieht, ohne ſie je zu betrachten; und in das Reich des menſchlichen Geiſtes, der ſich gleichſam von der erſten Frau abſcheidet, als deren hohe Zuͤge ihm nach und nach fremd und ſeltſam daͤuchen. Man kann die Naturpoeſie das Leben in der reinen Handlung ſelbſt nennen, ein lebendi- ges Buch, wahrer Geſchichte voll, das man auf jedem Blatt mag anfangen zu leſen und zu verſtehen, nimmer aber auslieſt noch durchverſteht. Die Kunſtpoeſieiſt eine Ar- beit des Lebens und ſchon im erſten Keim philoſophiſcher Art. In den Heldengeſaͤngen reicht nur noch ein Zweig aus der alten Naturpoeſie in unſer Land heruͤber, die Freude, das Eigenthum des Volks an ſeinen geliebten Koͤnigen und Herren muß ſich, ſo zu ſagen, von ſelber an und fortgeſungen haben. Ueber der Art, wie das zugegan- gen, liegt der Schleier eines Geheimniſſes gedeckt, an das man Glauben haben ſoll. Denn die Leugner, die ſich dafuͤr lieber mit einer duͤrren Wahrſcheinlichkeit behelfen wollen, bringen Syſteme auf, welche man mit Wahrheit widerlegen kann und nach denen ih- nen nichts uͤbrig bleibt. Dieſe Unbewußtheit der Tiefe iſt es auch, was die alten großen Lieder auf die ſpaͤteſten des Volks geerbt haben. Alle ſagen ein Leben, ein Freuen und Leiden aus 1), das an ſich hoͤchſt klar vor uns liegt, allein ſie thun es ſo, in Gleichniſſen mehr denn in Wor- ten, daß außer der Klarheit noch eine reine tiefe Bedeu- tung erſcheint. Vielleicht iſt es eine verſchiedene Weiſe, worin wir jetzo die alte Poeſie genießen. Die Vorfah- 1) In des Nibelungenlieds hertlichem Eingang iſt die vollſtaͤndige Idee des Epos ausgeſprochen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/16
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/16>, abgerufen am 21.11.2024.