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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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vorkomme und nicht früher. Auf des berühmten Dichters
Maerlant (+. 1300.) Grabschrift stehe zwar rhetor, allein
der Stein könne jünger seyn, die Kammer zu Diest sey zwar
schon angeblich 1302. gestiftet, aber unter dem Namen colle-
gium poeticum
174). Anfangs scheint ihr Sitz und Glanz
in Flamland gewesen zu seyn. Fürsten waren ihre Mitglieder,
wie Jan von Brabant (nicht unser Johans v. Br.) der Cammer
in Brüssel, Wilhelm von Oranien der zu Antwerpen; und viele
Adliche. Später hingegen zogen sie sich mehr ins eigentliche
Holland und mehrten sich außerordentlich. Im 18ten Jahrh.
sanken sie zusehends und mußten aus den Städten in die Dör-
fer wandern, sie wurden zuletzt (was sie früher nie gewesen wa-
ren) fast ganz volksmäßig, indem sie statt der Toneel- nun Wa-
genspiele in Wirthshäusern und bei öffentlichen Festen aufführ-
ten. Zu Kops Zeiten existirten aber noch in Flandern und
Holland eigentliche Kammern.

3) Die Einrichtung der Gesellschaft entscheidet völlig. Vorerst
heißt sie Cammer (chambre) und wählt, um sich von andern
zu unterscheiden, einen Blumennamen nebst einem Sinnspruch.
An einem Ort können zugleich 2, 3, 4 und mehr Cammern seyn
und gehen einander nichts an. Unter den Gliedern findet ein
gewisser Rang und Dienst statt, das vornehmste heißt Kaiser,
dann folgen Prinzen, Decane, Finder (vinder), Factoren,
Macher 175), Zusteller. Wenn nun eine Cammer eine Frage

174) Auf jeden Fall verdienen zwei Gedichte Maerlants besondere
Rückficht, worin er mit seinem "Compan" Martin verschiedene
Fragen aufwirft und beantwortet. Offenbar erinnert alles mehr
an die Tenzonen und Preguntas, als an unsere Meisterlieder.
Ich halte daher, daß man diesen Maerlant nicht wohl von den
spätern Rhetorikern trennen darf.
175) Freilich ein sehr allgemeiner Ausdruck, etwa wie poeta, oder
das altdeutsche Scof (Schöpfer, Schaffer), welches dasselbe
bedeutet. Docen Misc. 1. 233.

vorkomme und nicht fruͤher. Auf des beruͤhmten Dichters
Maerlant (†. 1300.) Grabſchrift ſtehe zwar rhetor, allein
der Stein koͤnne juͤnger ſeyn, die Kammer zu Dieſt ſey zwar
ſchon angeblich 1302. geſtiftet, aber unter dem Namen colle-
gium poëticum
174). Anfangs ſcheint ihr Sitz und Glanz
in Flamland geweſen zu ſeyn. Fuͤrſten waren ihre Mitglieder,
wie Jan von Brabant (nicht unſer Johans v. Br.) der Cammer
in Bruͤſſel, Wilhelm von Oranien der zu Antwerpen; und viele
Adliche. Spaͤter hingegen zogen ſie ſich mehr ins eigentliche
Holland und mehrten ſich außerordentlich. Im 18ten Jahrh.
ſanken ſie zuſehends und mußten aus den Staͤdten in die Doͤr-
fer wandern, ſie wurden zuletzt (was ſie fruͤher nie geweſen wa-
ren) faſt ganz volksmaͤßig, indem ſie ſtatt der Toneel- nun Wa-
genſpiele in Wirthshaͤuſern und bei oͤffentlichen Feſten auffuͤhr-
ten. Zu Kops Zeiten exiſtirten aber noch in Flandern und
Holland eigentliche Kammern.

3) Die Einrichtung der Geſellſchaft entſcheidet voͤllig. Vorerſt
heißt ſie Cammer (chambre) und waͤhlt, um ſich von andern
zu unterſcheiden, einen Blumennamen nebſt einem Sinnſpruch.
An einem Ort koͤnnen zugleich 2, 3, 4 und mehr Cammern ſeyn
und gehen einander nichts an. Unter den Gliedern findet ein
gewiſſer Rang und Dienſt ſtatt, das vornehmſte heißt Kaiſer,
dann folgen Prinzen, Decane, Finder (vinder), Factoren,
Macher 175), Zuſteller. Wenn nun eine Cammer eine Frage

174) Auf jeden Fall verdienen zwei Gedichte Maerlants beſondere
Ruͤckficht, worin er mit ſeinem „Compan“ Martin verſchiedene
Fragen aufwirft und beantwortet. Offenbar erinnert alles mehr
an die Tenzonen und Preguntas, als an unſere Meiſterlieder.
Ich halte daher, daß man dieſen Maerlant nicht wohl von den
ſpaͤtern Rhetorikern trennen darf.
175) Freilich ein ſehr allgemeiner Ausdruck, etwa wie poeta, oder
das altdeutſche Scof (Schoͤpfer, Schaffer), welches dasſelbe
bedeutet. Docen Miſc. 1. 233.
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[157/0167] vorkomme und nicht fruͤher. Auf des beruͤhmten Dichters Maerlant (†. 1300.) Grabſchrift ſtehe zwar rhetor, allein der Stein koͤnne juͤnger ſeyn, die Kammer zu Dieſt ſey zwar ſchon angeblich 1302. geſtiftet, aber unter dem Namen colle- gium poëticum 174). Anfangs ſcheint ihr Sitz und Glanz in Flamland geweſen zu ſeyn. Fuͤrſten waren ihre Mitglieder, wie Jan von Brabant (nicht unſer Johans v. Br.) der Cammer in Bruͤſſel, Wilhelm von Oranien der zu Antwerpen; und viele Adliche. Spaͤter hingegen zogen ſie ſich mehr ins eigentliche Holland und mehrten ſich außerordentlich. Im 18ten Jahrh. ſanken ſie zuſehends und mußten aus den Staͤdten in die Doͤr- fer wandern, ſie wurden zuletzt (was ſie fruͤher nie geweſen wa- ren) faſt ganz volksmaͤßig, indem ſie ſtatt der Toneel- nun Wa- genſpiele in Wirthshaͤuſern und bei oͤffentlichen Feſten auffuͤhr- ten. Zu Kops Zeiten exiſtirten aber noch in Flandern und Holland eigentliche Kammern. 3) Die Einrichtung der Geſellſchaft entſcheidet voͤllig. Vorerſt heißt ſie Cammer (chambre) und waͤhlt, um ſich von andern zu unterſcheiden, einen Blumennamen nebſt einem Sinnſpruch. An einem Ort koͤnnen zugleich 2, 3, 4 und mehr Cammern ſeyn und gehen einander nichts an. Unter den Gliedern findet ein gewiſſer Rang und Dienſt ſtatt, das vornehmſte heißt Kaiſer, dann folgen Prinzen, Decane, Finder (vinder), Factoren, Macher 175), Zuſteller. Wenn nun eine Cammer eine Frage 174) Auf jeden Fall verdienen zwei Gedichte Maerlants beſondere Ruͤckficht, worin er mit ſeinem „Compan“ Martin verſchiedene Fragen aufwirft und beantwortet. Offenbar erinnert alles mehr an die Tenzonen und Preguntas, als an unſere Meiſterlieder. Ich halte daher, daß man dieſen Maerlant nicht wohl von den ſpaͤtern Rhetorikern trennen darf. 175) Freilich ein ſehr allgemeiner Ausdruck, etwa wie poeta, oder das altdeutſche Scof (Schoͤpfer, Schaffer), welches dasſelbe bedeutet. Docen Miſc. 1. 233.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/167>, abgerufen am 24.11.2024.