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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Wolfram zu dem Grund seiner späteren Arbeit gelegt, so weit
es ihm nur vergönnt gewesen, fast alle Worte lassen sich nach-
weisen. Und was uns hier besonders interessirt, die neue Form
hat sich aus der alten entwickelt und ist durch sie lediglich be-
stimmt worden.

Der alte Titurel hat vierzeilige Strophen, wie ich sie
außer ihm noch nirgends in altdeutscher Poesie angetroffen 42),
es ist in ihnen ein einfacher Geist, wie in den Volksliedern,
und keine genaue Silbenhaltung. Doch läßt sich ungefähr fest-
setzen, daß die zweite Zeile um einige Silben länger als die
erste, die dritte um einlge kürzer als die erste, und die vierte,
wo nicht der zweiten gleich, meistens noch um einige länger ist,
als die zweite. Wir haben also hier wieder das Längern der
Schlußzeile des Ganzen, wie in den Nibelungen, von deren
Bau übrigens eine sichtliche Verschiedenheit. Namentlich
in der characteristischen Kürze der dritten Zeile, welche in den
Nibelungen ohne Beispiel, wohl aber habe ich vorhin einige
alte Minnelieder angegeben, welche gleichfalls die dritte Zeile
verkürzen. Und selbst von diesen weicht der alte Titurel wie-
der durch die merkwürdige Verlängerung der zweiten Zeile ab.
Ich zweifele fast nicht, daß die Musik der ersten Zeile in der

Form an die hexametrische erinnern. Dieß könnte weiter ver-
folgt werden, und dazu dienen die Natur des volksmäßigen
Hexameters dem spätern künstlichen und bewußten entgegen zu
stellen.
42) Hätten wir das Lied von Morolf und Salome in älterer
Gestalt, so fände sich hier vielleicht große Uebereinstimmung im
Bau der Strophen. Man vergleiche folgende Strophe, die in
den Versen 2014 -- 19 der Hagenschen Ausg. liegt; schon so ist
die Aehnlichkeit bedeutend:
Die kele worden bereit an den staden
Die morolf vnd die reise über das wasser soltent tragen
Darinne gingen die hilde lobesam
Da furt er zehen dusent uber des wilden meres stran.

Cfr. 2187 -- 90. 2191 -- 96 u. s. w.

Wolfram zu dem Grund ſeiner ſpaͤteren Arbeit gelegt, ſo weit
es ihm nur vergoͤnnt geweſen, faſt alle Worte laſſen ſich nach-
weiſen. Und was uns hier beſonders intereſſirt, die neue Form
hat ſich aus der alten entwickelt und iſt durch ſie lediglich be-
ſtimmt worden.

Der alte Titurel hat vierzeilige Strophen, wie ich ſie
außer ihm noch nirgends in altdeutſcher Poeſie angetroffen 42),
es iſt in ihnen ein einfacher Geiſt, wie in den Volksliedern,
und keine genaue Silbenhaltung. Doch laͤßt ſich ungefaͤhr feſt-
ſetzen, daß die zweite Zeile um einige Silben laͤnger als die
erſte, die dritte um einlge kuͤrzer als die erſte, und die vierte,
wo nicht der zweiten gleich, meiſtens noch um einige laͤnger iſt,
als die zweite. Wir haben alſo hier wieder das Laͤngern der
Schlußzeile des Ganzen, wie in den Nibelungen, von deren
Bau uͤbrigens eine ſichtliche Verſchiedenheit. Namentlich
in der characteriſtiſchen Kuͤrze der dritten Zeile, welche in den
Nibelungen ohne Beiſpiel, wohl aber habe ich vorhin einige
alte Minnelieder angegeben, welche gleichfalls die dritte Zeile
verkuͤrzen. Und ſelbſt von dieſen weicht der alte Titurel wie-
der durch die merkwuͤrdige Verlaͤngerung der zweiten Zeile ab.
Ich zweifele faſt nicht, daß die Muſik der erſten Zeile in der

Form an die hexametriſche erinnern. Dieß koͤnnte weiter ver-
folgt werden, und dazu dienen die Natur des volksmaͤßigen
Hexameters dem ſpaͤtern kuͤnſtlichen und bewußten entgegen zu
ſtellen.
42) Haͤtten wir das Lied von Morolf und Salome in aͤlterer
Geſtalt, ſo faͤnde ſich hier vielleicht große Uebereinſtimmung im
Bau der Strophen. Man vergleiche folgende Strophe, die in
den Verſen 2014 — 19 der Hagenſchen Ausg. liegt; ſchon ſo iſt
die Aehnlichkeit bedeutend:
Die kele worden bereit an den ſtaden
Die morolf vnd die reiſe uͤber das waſſer ſoltent tragen
Darinne gingen die hilde lobeſam
Da furt er zehen duſent uber des wilden meres ſtran.

Cfr. 2187 — 90. 2191 — 96 u. ſ. w.
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[60/0070] Wolfram zu dem Grund ſeiner ſpaͤteren Arbeit gelegt, ſo weit es ihm nur vergoͤnnt geweſen, faſt alle Worte laſſen ſich nach- weiſen. Und was uns hier beſonders intereſſirt, die neue Form hat ſich aus der alten entwickelt und iſt durch ſie lediglich be- ſtimmt worden. Der alte Titurel hat vierzeilige Strophen, wie ich ſie außer ihm noch nirgends in altdeutſcher Poeſie angetroffen 42), es iſt in ihnen ein einfacher Geiſt, wie in den Volksliedern, und keine genaue Silbenhaltung. Doch laͤßt ſich ungefaͤhr feſt- ſetzen, daß die zweite Zeile um einige Silben laͤnger als die erſte, die dritte um einlge kuͤrzer als die erſte, und die vierte, wo nicht der zweiten gleich, meiſtens noch um einige laͤnger iſt, als die zweite. Wir haben alſo hier wieder das Laͤngern der Schlußzeile des Ganzen, wie in den Nibelungen, von deren Bau uͤbrigens eine ſichtliche Verſchiedenheit. Namentlich in der characteriſtiſchen Kuͤrze der dritten Zeile, welche in den Nibelungen ohne Beiſpiel, wohl aber habe ich vorhin einige alte Minnelieder angegeben, welche gleichfalls die dritte Zeile verkuͤrzen. Und ſelbſt von dieſen weicht der alte Titurel wie- der durch die merkwuͤrdige Verlaͤngerung der zweiten Zeile ab. Ich zweifele faſt nicht, daß die Muſik der erſten Zeile in der 41 a) 42) Haͤtten wir das Lied von Morolf und Salome in aͤlterer Geſtalt, ſo faͤnde ſich hier vielleicht große Uebereinſtimmung im Bau der Strophen. Man vergleiche folgende Strophe, die in den Verſen 2014 — 19 der Hagenſchen Ausg. liegt; ſchon ſo iſt die Aehnlichkeit bedeutend: Die kele worden bereit an den ſtaden Die morolf vnd die reiſe uͤber das waſſer ſoltent tragen Darinne gingen die hilde lobeſam Da furt er zehen duſent uber des wilden meres ſtran. Cfr. 2187 — 90. 2191 — 96 u. ſ. w. 41 a) Form an die hexametriſche erinnern. Dieß koͤnnte weiter ver- folgt werden, und dazu dienen die Natur des volksmaͤßigen Hexameters dem ſpaͤtern kuͤnſtlichen und bewußten entgegen zu ſtellen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/70>, abgerufen am 21.11.2024.