Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

zweiten wiedergekehrt und nur mit einem längeren Verweilen
geschlossen habe; die dritte und vierte müssen das Trio gebil-
det haben.

Nun ist offenbar, wie Wolfram mit dem, was er vor-
fand, verfuhr. Die beiden ersten Zeilen zerschnitt er in vier
Theile und erfand für seine nunmehrige erste und dritte neue
Reime, wozu sich im alten Bau durchaus keine Vorneigung
spürt. In der zweiten und vierten ließ er die Reime der
alten ersten und zweiten, so wie in seiner fünften und sechsten
(oder siebenten) die der alten dritten und vierten stehen; sehr
begreiflich, weil er sonst alles Herrliche hätte zerstören müssen.
Aber eben diesen beibehaltenen alten Reimen zu Gefallen durfte
er das Ganze nicht vermengen. Zu zwei silbengleichen Stollen
konnte er mithin unmöglich gelangen, hätte er jede der zwei
ersten alten Zeilen in gleiche Hälften geschnitten, so würde sich
sein erster und zweiter Stoll in keiner Zeile gleich geworden
seyn, daher schnitt er die zweite alte Zeile in ungleiche Theile
und wendete die überfließende Länge seiner Schlußzeile (d. i.
seiner vierten) allein zu. Nicht nur in richtigem Gefühl des
alten Klanges, sondern auch, weil er ein solches Ueberfließen
nicht gerade mit seinem Meistergesang unvereinlich hielt. We-
niger Mühe kostete ihm der Abgesang, oder vielleicht gar keine,
denn es läßt sich nicht ganz entscheiden, ob die Trennung der
sechsten, leer gelassenen Zeile schon von ihm hergerührt oder
erst später beliebt worden sey. Wenigstens theilt die hannö-
verische H. S. nicht, wie der Druck, die sechste und siebente
Zeile, und darin scheint sie mit der Wiener 43) überein zu
kommen. Andererseits ist nicht unvermuthlich, daß Eschen-
bach
eine gewisse äußere Gleichstellung aller Zeilen beabsichtigt
und indem er von der alten vierten 7 Silben für seine sechste
abgenommen, darin die erste Zeile der Stollen wieder erschei-
nen lassen wollen. Dazu kommt, daß in Wolframs Titurel

43) Altdeutsches Mus. 1. 575.

zweiten wiedergekehrt und nur mit einem laͤngeren Verweilen
geſchloſſen habe; die dritte und vierte muͤſſen das Trio gebil-
det haben.

Nun iſt offenbar, wie Wolfram mit dem, was er vor-
fand, verfuhr. Die beiden erſten Zeilen zerſchnitt er in vier
Theile und erfand fuͤr ſeine nunmehrige erſte und dritte neue
Reime, wozu ſich im alten Bau durchaus keine Vorneigung
ſpuͤrt. In der zweiten und vierten ließ er die Reime der
alten erſten und zweiten, ſo wie in ſeiner fuͤnften und ſechsten
(oder ſiebenten) die der alten dritten und vierten ſtehen; ſehr
begreiflich, weil er ſonſt alles Herrliche haͤtte zerſtoͤren muͤſſen.
Aber eben dieſen beibehaltenen alten Reimen zu Gefallen durfte
er das Ganze nicht vermengen. Zu zwei ſilbengleichen Stollen
konnte er mithin unmoͤglich gelangen, haͤtte er jede der zwei
erſten alten Zeilen in gleiche Haͤlften geſchnitten, ſo wuͤrde ſich
ſein erſter und zweiter Stoll in keiner Zeile gleich geworden
ſeyn, daher ſchnitt er die zweite alte Zeile in ungleiche Theile
und wendete die uͤberfließende Laͤnge ſeiner Schlußzeile (d. i.
ſeiner vierten) allein zu. Nicht nur in richtigem Gefuͤhl des
alten Klanges, ſondern auch, weil er ein ſolches Ueberfließen
nicht gerade mit ſeinem Meiſtergeſang unvereinlich hielt. We-
niger Muͤhe koſtete ihm der Abgeſang, oder vielleicht gar keine,
denn es laͤßt ſich nicht ganz entſcheiden, ob die Trennung der
ſechsten, leer gelaſſenen Zeile ſchon von ihm hergeruͤhrt oder
erſt ſpaͤter beliebt worden ſey. Wenigſtens theilt die hannoͤ-
veriſche H. S. nicht, wie der Druck, die ſechste und ſiebente
Zeile, und darin ſcheint ſie mit der Wiener 43) uͤberein zu
kommen. Andererſeits iſt nicht unvermuthlich, daß Eſchen-
bach
eine gewiſſe aͤußere Gleichſtellung aller Zeilen beabſichtigt
und indem er von der alten vierten 7 Silben fuͤr ſeine ſechste
abgenommen, darin die erſte Zeile der Stollen wieder erſchei-
nen laſſen wollen. Dazu kommt, daß in Wolframs Titurel

43) Altdeutſches Muſ. 1. 575.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0071" n="61"/>
zweiten wiedergekehrt und nur mit einem la&#x0364;ngeren Verweilen<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en habe; die dritte und vierte mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en das Trio gebil-<lb/>
det haben.</p><lb/>
              <p>Nun i&#x017F;t offenbar, wie <hi rendition="#g">Wolfram</hi> mit dem, was er vor-<lb/>
fand, verfuhr. Die beiden er&#x017F;ten Zeilen zer&#x017F;chnitt er in vier<lb/>
Theile und erfand fu&#x0364;r &#x017F;eine nunmehrige er&#x017F;te und dritte neue<lb/>
Reime, wozu &#x017F;ich im alten Bau durchaus keine Vorneigung<lb/>
&#x017F;pu&#x0364;rt. In der zweiten und vierten ließ er die Reime der<lb/>
alten er&#x017F;ten und zweiten, &#x017F;o wie in &#x017F;einer fu&#x0364;nften und &#x017F;echsten<lb/>
(oder &#x017F;iebenten) die der alten dritten und vierten &#x017F;tehen; &#x017F;ehr<lb/>
begreiflich, weil er &#x017F;on&#x017F;t alles Herrliche ha&#x0364;tte zer&#x017F;to&#x0364;ren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Aber eben die&#x017F;en beibehaltenen alten Reimen zu Gefallen durfte<lb/>
er das Ganze nicht vermengen. Zu zwei &#x017F;ilbengleichen Stollen<lb/>
konnte er mithin unmo&#x0364;glich gelangen, ha&#x0364;tte er jede der zwei<lb/>
er&#x017F;ten alten Zeilen in gleiche Ha&#x0364;lften ge&#x017F;chnitten, &#x017F;o wu&#x0364;rde &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;ein er&#x017F;ter und zweiter Stoll in keiner Zeile gleich geworden<lb/>
&#x017F;eyn, daher &#x017F;chnitt er die zweite alte Zeile in ungleiche Theile<lb/>
und wendete die u&#x0364;berfließende La&#x0364;nge &#x017F;einer Schlußzeile (d. i.<lb/>
&#x017F;einer vierten) allein zu. Nicht nur in richtigem Gefu&#x0364;hl des<lb/>
alten Klanges, &#x017F;ondern auch, weil er ein &#x017F;olches Ueberfließen<lb/>
nicht gerade mit &#x017F;einem Mei&#x017F;terge&#x017F;ang unvereinlich hielt. We-<lb/>
niger Mu&#x0364;he ko&#x017F;tete ihm der Abge&#x017F;ang, oder vielleicht gar keine,<lb/>
denn es la&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht ganz ent&#x017F;cheiden, ob die Trennung der<lb/>
&#x017F;echsten, leer gela&#x017F;&#x017F;enen Zeile &#x017F;chon von ihm hergeru&#x0364;hrt oder<lb/>
er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter beliebt worden &#x017F;ey. Wenig&#x017F;tens theilt die hanno&#x0364;-<lb/>
veri&#x017F;che H. S. nicht, wie der Druck, die &#x017F;echste und &#x017F;iebente<lb/>
Zeile, und darin &#x017F;cheint &#x017F;ie mit der Wiener <note place="foot" n="43)">Altdeut&#x017F;ches Mu&#x017F;. 1. 575.</note> u&#x0364;berein zu<lb/>
kommen. Anderer&#x017F;eits i&#x017F;t nicht unvermuthlich, daß <hi rendition="#g">E&#x017F;chen-<lb/>
bach</hi> eine gewi&#x017F;&#x017F;e a&#x0364;ußere Gleich&#x017F;tellung aller Zeilen beab&#x017F;ichtigt<lb/>
und indem er von der alten vierten 7 Silben fu&#x0364;r &#x017F;eine &#x017F;echste<lb/>
abgenommen, darin die er&#x017F;te Zeile der Stollen wieder er&#x017F;chei-<lb/>
nen la&#x017F;&#x017F;en wollen. Dazu kommt, daß in <hi rendition="#g">Wolframs</hi> Titurel<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0071] zweiten wiedergekehrt und nur mit einem laͤngeren Verweilen geſchloſſen habe; die dritte und vierte muͤſſen das Trio gebil- det haben. Nun iſt offenbar, wie Wolfram mit dem, was er vor- fand, verfuhr. Die beiden erſten Zeilen zerſchnitt er in vier Theile und erfand fuͤr ſeine nunmehrige erſte und dritte neue Reime, wozu ſich im alten Bau durchaus keine Vorneigung ſpuͤrt. In der zweiten und vierten ließ er die Reime der alten erſten und zweiten, ſo wie in ſeiner fuͤnften und ſechsten (oder ſiebenten) die der alten dritten und vierten ſtehen; ſehr begreiflich, weil er ſonſt alles Herrliche haͤtte zerſtoͤren muͤſſen. Aber eben dieſen beibehaltenen alten Reimen zu Gefallen durfte er das Ganze nicht vermengen. Zu zwei ſilbengleichen Stollen konnte er mithin unmoͤglich gelangen, haͤtte er jede der zwei erſten alten Zeilen in gleiche Haͤlften geſchnitten, ſo wuͤrde ſich ſein erſter und zweiter Stoll in keiner Zeile gleich geworden ſeyn, daher ſchnitt er die zweite alte Zeile in ungleiche Theile und wendete die uͤberfließende Laͤnge ſeiner Schlußzeile (d. i. ſeiner vierten) allein zu. Nicht nur in richtigem Gefuͤhl des alten Klanges, ſondern auch, weil er ein ſolches Ueberfließen nicht gerade mit ſeinem Meiſtergeſang unvereinlich hielt. We- niger Muͤhe koſtete ihm der Abgeſang, oder vielleicht gar keine, denn es laͤßt ſich nicht ganz entſcheiden, ob die Trennung der ſechsten, leer gelaſſenen Zeile ſchon von ihm hergeruͤhrt oder erſt ſpaͤter beliebt worden ſey. Wenigſtens theilt die hannoͤ- veriſche H. S. nicht, wie der Druck, die ſechste und ſiebente Zeile, und darin ſcheint ſie mit der Wiener 43) uͤberein zu kommen. Andererſeits iſt nicht unvermuthlich, daß Eſchen- bach eine gewiſſe aͤußere Gleichſtellung aller Zeilen beabſichtigt und indem er von der alten vierten 7 Silben fuͤr ſeine ſechste abgenommen, darin die erſte Zeile der Stollen wieder erſchei- nen laſſen wollen. Dazu kommt, daß in Wolframs Titurel 43) Altdeutſches Muſ. 1. 575.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/71
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/71>, abgerufen am 24.11.2024.