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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Außerdem hat Docen einen Leich des Lichtenstein in den
Misc. 1, 102 -- 104. mitgetheilt, aber gar keine Sorge auf
die richtige Abtheilung verwendet. Derselbe liefert in den Zu-
sätzen zu den Misc. (S. 14.) ein Anfangs des Jenaischen M.
G. B. befindliches Fragment eines Leichs gegen die Juden 50).

Aus drei und dreißig Mustern (wo ich richtig zähle) kön-
nen wir schon die Natur der Leiche vollkommen verstehen, und
dürfen sie in nichts anderes setzen, als in die Beweglichkeit
und den beständigen Wechsel mehrerer Töne. Keiner wird
ausgehalten und bald in einen neuen übergegangen. Mitunter
drei oder mehr Gesetze in einer Weise, dann plötzliches Unter-
brechen und wieder fällt der Gesang in die alte Melodie zu-
rück, oder doch in einen Theil derselben. Kurz, im Ganzen
herrscht gar keine Regel, im Einzelnen ist alles künstlich gehal-
ten. Oft heben die neuen Töne da an, wo ein neuer Sinn an-
geht, oft kehren sie sich an diesen gar nicht und schon in frühe-
ren ist eine Neigung zu dem, was sich in einigen Leichen Frauen-
lobs zeigt, er scheint mit dem Einfachen anzufangen und ins
Schwerere, Verwickeltere fortzuschreiten. (Merkwürdige, hier zu
weit führende Hindeutung auf den stets wechselnden Rhythmus
der Dithyramben, der nomoi ohne Wiederkehr.)

Beschränkung auf einen gewissen Gegenstand kann man
nicht behaupten, denn wir haben geistliche, klagende 51), er-
zählende, lustige und Tanzleiche. Jedoch sind die letzten allzu-
häufig, als daß man nicht in dem freikünstlichen Reihentanz
den Anlaß zu der ganzen Art und Weise suchen dürfte. Figu-
ren setzen sich an Figuren, alle sind in sich geschlossen, eine
neue entspringt plötzlich aus der vorigen, im Verfolg kehren
die alten wieder; etwas großes wird in demselben Verhältniß

50) Die Vermuthung, daß er von Regenbogen, gründet sich wohl
auf Adelungs Nachr. 2. 253, allein dieß Gedicht steht im
Weim. Cod. und ist kein Leich.
51) Titurel Str. 622. klagende Leich.

Außerdem hat Docen einen Leich des Lichtenſtein in den
Miſc. 1, 102 — 104. mitgetheilt, aber gar keine Sorge auf
die richtige Abtheilung verwendet. Derſelbe liefert in den Zu-
ſaͤtzen zu den Miſc. (S. 14.) ein Anfangs des Jenaiſchen M.
G. B. befindliches Fragment eines Leichs gegen die Juden 50).

Aus drei und dreißig Muſtern (wo ich richtig zaͤhle) koͤn-
nen wir ſchon die Natur der Leiche vollkommen verſtehen, und
duͤrfen ſie in nichts anderes ſetzen, als in die Beweglichkeit
und den beſtaͤndigen Wechſel mehrerer Toͤne. Keiner wird
ausgehalten und bald in einen neuen uͤbergegangen. Mitunter
drei oder mehr Geſetze in einer Weiſe, dann ploͤtzliches Unter-
brechen und wieder faͤllt der Geſang in die alte Melodie zu-
ruͤck, oder doch in einen Theil derſelben. Kurz, im Ganzen
herrſcht gar keine Regel, im Einzelnen iſt alles kuͤnſtlich gehal-
ten. Oft heben die neuen Toͤne da an, wo ein neuer Sinn an-
geht, oft kehren ſie ſich an dieſen gar nicht und ſchon in fruͤhe-
ren iſt eine Neigung zu dem, was ſich in einigen Leichen Frauen-
lobs zeigt, er ſcheint mit dem Einfachen anzufangen und ins
Schwerere, Verwickeltere fortzuſchreiten. (Merkwuͤrdige, hier zu
weit fuͤhrende Hindeutung auf den ſtets wechſelnden Rhythmus
der Dithyramben, der νόμοι ohne Wiederkehr.)

Beſchraͤnkung auf einen gewiſſen Gegenſtand kann man
nicht behaupten, denn wir haben geiſtliche, klagende 51), er-
zaͤhlende, luſtige und Tanzleiche. Jedoch ſind die letzten allzu-
haͤufig, als daß man nicht in dem freikuͤnſtlichen Reihentanz
den Anlaß zu der ganzen Art und Weiſe ſuchen duͤrfte. Figu-
ren ſetzen ſich an Figuren, alle ſind in ſich geſchloſſen, eine
neue entſpringt ploͤtzlich aus der vorigen, im Verfolg kehren
die alten wieder; etwas großes wird in demſelben Verhaͤltniß

50) Die Vermuthung, daß er von Regenbogen, gruͤndet ſich wohl
auf Adelungs Nachr. 2. 253, allein dieß Gedicht ſteht im
Weim. Cod. und iſt kein Leich.
51) Titurel Str. 622. klagende Leich.
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[66/0076] Außerdem hat Docen einen Leich des Lichtenſtein in den Miſc. 1, 102 — 104. mitgetheilt, aber gar keine Sorge auf die richtige Abtheilung verwendet. Derſelbe liefert in den Zu- ſaͤtzen zu den Miſc. (S. 14.) ein Anfangs des Jenaiſchen M. G. B. befindliches Fragment eines Leichs gegen die Juden 50). Aus drei und dreißig Muſtern (wo ich richtig zaͤhle) koͤn- nen wir ſchon die Natur der Leiche vollkommen verſtehen, und duͤrfen ſie in nichts anderes ſetzen, als in die Beweglichkeit und den beſtaͤndigen Wechſel mehrerer Toͤne. Keiner wird ausgehalten und bald in einen neuen uͤbergegangen. Mitunter drei oder mehr Geſetze in einer Weiſe, dann ploͤtzliches Unter- brechen und wieder faͤllt der Geſang in die alte Melodie zu- ruͤck, oder doch in einen Theil derſelben. Kurz, im Ganzen herrſcht gar keine Regel, im Einzelnen iſt alles kuͤnſtlich gehal- ten. Oft heben die neuen Toͤne da an, wo ein neuer Sinn an- geht, oft kehren ſie ſich an dieſen gar nicht und ſchon in fruͤhe- ren iſt eine Neigung zu dem, was ſich in einigen Leichen Frauen- lobs zeigt, er ſcheint mit dem Einfachen anzufangen und ins Schwerere, Verwickeltere fortzuſchreiten. (Merkwuͤrdige, hier zu weit fuͤhrende Hindeutung auf den ſtets wechſelnden Rhythmus der Dithyramben, der νόμοι ohne Wiederkehr.) Beſchraͤnkung auf einen gewiſſen Gegenſtand kann man nicht behaupten, denn wir haben geiſtliche, klagende 51), er- zaͤhlende, luſtige und Tanzleiche. Jedoch ſind die letzten allzu- haͤufig, als daß man nicht in dem freikuͤnſtlichen Reihentanz den Anlaß zu der ganzen Art und Weiſe ſuchen duͤrfte. Figu- ren ſetzen ſich an Figuren, alle ſind in ſich geſchloſſen, eine neue entſpringt ploͤtzlich aus der vorigen, im Verfolg kehren die alten wieder; etwas großes wird in demſelben Verhaͤltniß 50) Die Vermuthung, daß er von Regenbogen, gruͤndet ſich wohl auf Adelungs Nachr. 2. 253, allein dieß Gedicht ſteht im Weim. Cod. und iſt kein Leich. 51) Titurel Str. 622. klagende Leich.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/76>, abgerufen am 24.11.2024.