Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.
mannichfaltig gewesen seyn 65). Der Hynnenberger sagt CCXIV, 65) Wolfh. Spangenberg nennt diese Lieder einmal Streit- und Reiz- dann auch Haft-Lieder, welches letzte an die Auffo- derung: nun Meister löse mir diesen Haft! (W. Kr. Sir. 30.) erinnern wird. Dem Fr. von Sunnenburg (CCCCXXX.) legte seine Liebste (Vredelin) ein Beispiel vor, und er singt: "sit ich durch ire liebe diesen haft untsliezen sol." 66) Hier ist der Ort, einem Einwurf zu begegnen. Man könnte
darauf verfallen, das Wesen des früheren Meistergesanges eben durch die Anwendung der Poesie auf die Lehren der sieben freien Künste zu erklären, also in ihm eine bestimmte gelchrte, alleao- rische, theologische Dichtkunst zu suchen, die denn späterhin nur moralisch und biblisch geworden wäre. (Cf. Docen not. 30. p. 448.) Außer mehreren andern noch nachher anzuführen- den Stellen (vergl. oben Note 20. und den N. l. A. 1807. 772. 773.), läßt sich anscheinlich auch die Idee der Wettstreite dar- auf deuten. Allein: 1) es bliebe unerklärt, warum eine sich als höchst characteri- stisch darstellende Form auch in den andern Liedern über welt- liche, gemeine Gegenstände vorkäme, oder warum die gelehrte Kunst sich auch nicht äußerlich einen eigenen Kreis gezogen hätte. 2) Bei den späten Meistern gelten diese weltiichen Lieder doch gewiß für rechte und förmliche Meistergesänge, überhaupt eine solche sachliche Trennung ist nirgends ausgesvrochen. 3) Die fürstlichen Loblieder, wovon namentlich der Wartb. Kr. den Anlaß genommen, passen nicht recht unter eine solche Ansicht. 4) Wir dürfen doch nur wenigen unter den anerkannt älte- ren Meistern diese Gelehrsamkeit beilegen, unter den ältesten etwa allein dem Klinsor; aus Wolframs eigenen Gedichten ständen sonst eine Menge Stellen, worin er seine Laienschaft erkennt, entgegen, ungeachtet dieser Meister unstreitig einen Reich- thum von allerlei Kenntnissen besaß. Rumelant stellt sich auch den gelehrten Meistern entgegen. CCCV. u. CCCXIII. 5) Gerade die Meister, in deren Periode jener postulirte Be- griff des Meistergesangs noch am ersten zu finden wäre, klagen mannichfaltig geweſen ſeyn 65). Der Hynnenberger ſagt CCXIV, 65) Wolfh. Spangenberg nennt dieſe Lieder einmal Streit- und Reiz- dann auch Haft-Lieder, welches letzte an die Auffo- derung: nun Meiſter loͤſe mir dieſen Haft! (W. Kr. Sir. 30.) erinnern wird. Dem Fr. von Sunnenburg (CCCCXXX.) legte ſeine Liebſte (Vredelin) ein Beiſpiel vor, und er ſingt: „ſit ich durch ire liebe dieſen haft untſliezen ſol.“ 66) Hier iſt der Ort, einem Einwurf zu begegnen. Man koͤnnte
darauf verfallen, das Weſen des fruͤheren Meiſtergeſanges eben durch die Anwendung der Poeſie auf die Lehren der ſieben freien Kuͤnſte zu erklaͤren, alſo in ihm eine beſtimmte gelchrte, alleao- riſche, theologiſche Dichtkunſt zu ſuchen, die denn ſpaͤterhin nur moraliſch und bibliſch geworden waͤre. (Cf. Docen not. 30. p. 448.) Außer mehreren andern noch nachher anzufuͤhren- den Stellen (vergl. oben Note 20. und den N. l. A. 1807. 772. 773.), laͤßt ſich anſcheinlich auch die Idee der Wettſtreite dar- auf deuten. Allein: 1) es bliebe unerklaͤrt, warum eine ſich als hoͤchſt characteri- ſtiſch darſtellende Form auch in den andern Liedern uͤber welt- liche, gemeine Gegenſtaͤnde vorkaͤme, oder warum die gelehrte Kunſt ſich auch nicht aͤußerlich einen eigenen Kreis gezogen haͤtte. 2) Bei den ſpaͤten Meiſtern gelten dieſe weltiichen Lieder doch gewiß fuͤr rechte und foͤrmliche Meiſtergeſaͤnge, uͤberhaupt eine ſolche ſachliche Trennung iſt nirgends ausgeſvrochen. 3) Die fuͤrſtlichen Loblieder, wovon namentlich der Wartb. Kr. den Anlaß genommen, paſſen nicht recht unter eine ſolche Anſicht. 4) Wir duͤrfen doch nur wenigen unter den anerkannt aͤlte- ren Meiſtern dieſe Gelehrſamkeit beilegen, unter den aͤlteſten etwa allein dem Klinſor; aus Wolframs eigenen Gedichten ſtaͤnden ſonſt eine Menge Stellen, worin er ſeine Laienſchaft erkennt, entgegen, ungeachtet dieſer Meiſter unſtreitig einen Reich- thum von allerlei Kenntniſſen beſaß. Rumelant ſtellt ſich auch den gelehrten Meiſtern entgegen. CCCV. u. CCCXIII. 5) Gerade die Meiſter, in deren Periode jener poſtulirte Be- griff des Meiſtergeſangs noch am erſten zu finden waͤre, klagen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0090" n="80"/> mannichfaltig geweſen ſeyn <note place="foot" n="65)">Wolfh. <hi rendition="#g">Spangenberg</hi> nennt dieſe Lieder einmal Streit- und<lb/> Reiz- dann auch <hi rendition="#g">Haft-Lieder</hi>, welches letzte an die Auffo-<lb/> derung: nun Meiſter loͤſe mir dieſen Haft! (W. Kr. Sir. 30.)<lb/> erinnern wird. Dem Fr. von Sunnenburg (<hi rendition="#aq">CCCCXXX.</hi>) legte<lb/> ſeine Liebſte (Vredelin) ein Beiſpiel vor, und er ſingt: „ſit ich<lb/> durch ire liebe dieſen haft untſliezen ſol.“</note>. Der Hynnenberger ſagt <hi rendition="#aq">CCXIV</hi>,<lb/> daß dumme Laien nicht von der Natur reden ſollen, ſelbſt einem<lb/> weiſen Pfaffen ſey es zu viel, man ſolle ſich aber daruͤber<lb/> einen meiſterlichen <note xml:id="seg2pn_7_1" next="#seg2pn_7_2" place="foot" n="66)">Hier iſt der Ort, einem Einwurf zu begegnen. Man koͤnnte<lb/> darauf verfallen, das Weſen des fruͤheren Meiſtergeſanges eben<lb/> durch die Anwendung der Poeſie auf die Lehren der ſieben freien<lb/> Kuͤnſte zu erklaͤren, alſo in ihm eine beſtimmte gelchrte, alleao-<lb/> riſche, theologiſche Dichtkunſt zu ſuchen, die denn ſpaͤterhin<lb/> nur moraliſch und bibliſch geworden waͤre. (<hi rendition="#aq">Cf.</hi> <hi rendition="#g">Docen</hi> <hi rendition="#aq">not.</hi><lb/> 30. <hi rendition="#aq">p.</hi> 448.) Außer mehreren andern noch nachher anzufuͤhren-<lb/> den Stellen (vergl. oben Note 20. und den N. l. A. 1807. 772.<lb/> 773.), laͤßt ſich anſcheinlich auch die Idee der Wettſtreite dar-<lb/> auf deuten. Allein:<lb/> 1) es bliebe unerklaͤrt, warum eine ſich als hoͤchſt characteri-<lb/> ſtiſch darſtellende Form auch in den andern Liedern uͤber welt-<lb/> liche, gemeine Gegenſtaͤnde vorkaͤme, oder warum die gelehrte<lb/> Kunſt ſich auch nicht aͤußerlich einen eigenen Kreis gezogen haͤtte.<lb/> 2) Bei den ſpaͤten Meiſtern gelten dieſe weltiichen Lieder<lb/> doch gewiß fuͤr rechte und foͤrmliche Meiſtergeſaͤnge, uͤberhaupt<lb/> eine ſolche ſachliche Trennung iſt nirgends ausgeſvrochen.<lb/> 3) Die fuͤrſtlichen Loblieder, wovon namentlich der Wartb.<lb/> Kr. den Anlaß genommen, paſſen nicht recht unter eine ſolche<lb/> Anſicht.<lb/> 4) Wir duͤrfen doch nur wenigen unter den anerkannt aͤlte-<lb/> ren Meiſtern dieſe Gelehrſamkeit beilegen, unter den aͤlteſten<lb/> etwa allein dem Klinſor; aus Wolframs eigenen Gedichten<lb/> ſtaͤnden ſonſt eine Menge Stellen, worin er ſeine Laienſchaft<lb/> erkennt, entgegen, ungeachtet dieſer Meiſter unſtreitig einen Reich-<lb/> thum von allerlei Kenntniſſen beſaß. <hi rendition="#g">Rumelant</hi> ſtellt ſich<lb/> auch den gelehrten Meiſtern entgegen. <hi rendition="#aq">CCCV.</hi> u. <hi rendition="#aq">CCCXIII.</hi><lb/> 5) Gerade die Meiſter, in deren Periode jener poſtulirte Be-<lb/> griff des Meiſtergeſangs noch am erſten zu finden waͤre, klagen</note> <hi rendition="#g">Streit</hi> mit rechter Kunſt entſtricken<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0090]
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einen meiſterlichen 66) Streit mit rechter Kunſt entſtricken
65) Wolfh. Spangenberg nennt dieſe Lieder einmal Streit- und
Reiz- dann auch Haft-Lieder, welches letzte an die Auffo-
derung: nun Meiſter loͤſe mir dieſen Haft! (W. Kr. Sir. 30.)
erinnern wird. Dem Fr. von Sunnenburg (CCCCXXX.) legte
ſeine Liebſte (Vredelin) ein Beiſpiel vor, und er ſingt: „ſit ich
durch ire liebe dieſen haft untſliezen ſol.“
66) Hier iſt der Ort, einem Einwurf zu begegnen. Man koͤnnte
darauf verfallen, das Weſen des fruͤheren Meiſtergeſanges eben
durch die Anwendung der Poeſie auf die Lehren der ſieben freien
Kuͤnſte zu erklaͤren, alſo in ihm eine beſtimmte gelchrte, alleao-
riſche, theologiſche Dichtkunſt zu ſuchen, die denn ſpaͤterhin
nur moraliſch und bibliſch geworden waͤre. (Cf. Docen not.
30. p. 448.) Außer mehreren andern noch nachher anzufuͤhren-
den Stellen (vergl. oben Note 20. und den N. l. A. 1807. 772.
773.), laͤßt ſich anſcheinlich auch die Idee der Wettſtreite dar-
auf deuten. Allein:
1) es bliebe unerklaͤrt, warum eine ſich als hoͤchſt characteri-
ſtiſch darſtellende Form auch in den andern Liedern uͤber welt-
liche, gemeine Gegenſtaͤnde vorkaͤme, oder warum die gelehrte
Kunſt ſich auch nicht aͤußerlich einen eigenen Kreis gezogen haͤtte.
2) Bei den ſpaͤten Meiſtern gelten dieſe weltiichen Lieder
doch gewiß fuͤr rechte und foͤrmliche Meiſtergeſaͤnge, uͤberhaupt
eine ſolche ſachliche Trennung iſt nirgends ausgeſvrochen.
3) Die fuͤrſtlichen Loblieder, wovon namentlich der Wartb.
Kr. den Anlaß genommen, paſſen nicht recht unter eine ſolche
Anſicht.
4) Wir duͤrfen doch nur wenigen unter den anerkannt aͤlte-
ren Meiſtern dieſe Gelehrſamkeit beilegen, unter den aͤlteſten
etwa allein dem Klinſor; aus Wolframs eigenen Gedichten
ſtaͤnden ſonſt eine Menge Stellen, worin er ſeine Laienſchaft
erkennt, entgegen, ungeachtet dieſer Meiſter unſtreitig einen Reich-
thum von allerlei Kenntniſſen beſaß. Rumelant ſtellt ſich
auch den gelehrten Meiſtern entgegen. CCCV. u. CCCXIII.
5) Gerade die Meiſter, in deren Periode jener poſtulirte Be-
griff des Meiſtergeſangs noch am erſten zu finden waͤre, klagen
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| Zitationshilfe: | Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/90>, abgerufen am 21.11.2024. |
