Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.fortwerfen oder zurücklassen; ich aber versteckte sie heimlich in meiner Hutschachtel. Nach ein Paar Stunden ging die Reise weiter durch das herrliche Rheinthal. -- Das Wetter war jetzt schön geworden, wir saßen zusammen in einem Coupe erster Klasse, und Frau Julia plauderte ganz harmlos und fast in ausgelassener Laune mit mir. Ich kann sagen, dies war die glücklichste Strecke der Reise, und ich fühlte mehr und mehr meine Besorgnisse schwinden. -- Abends waren wir in Chur, in dieser wohlhäbigen, sauberen Stadt in dem weiten Thale, das von drei Seiten von majestätischen Gebirgen eingeschlossen ist. Wir logirten in dem reizenden Gasthaus zur Stadt Bern. -- Rings Balkone vor jedem Fenster, schon wie in Italien, nur daß sie von Holz sind. Wir bekamen zwei reizende Zimmer. Mein Vorschlag war, den Thee oben zu nehmen, aber Frau Julia bestand darauf, in den großen Saal an die Abendtafel zu gehen. Was wollt' ich machen? So setzten wir uns mitten zwischen die fremden Leute hinein, von hundert Augen beobachtet, von hundert Zeugen bekrittelt; ich kann sagen, ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, Frau Julia aber war von einer Sicherheit und Unbefangenheit, die mich in Erstaunen setzte. Dabei sprach sie ziemlich reichlich den vorgesetzten Speisen zu und verschmähte auch nicht ein Glas Wein. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fand plötzlich den Muth, sie um ein Plauderstündchen nach dem Souper zu bitten. Warum denn nicht? sagte Frau Julia. Wir haben ja einen fortwerfen oder zurücklassen; ich aber versteckte sie heimlich in meiner Hutschachtel. Nach ein Paar Stunden ging die Reise weiter durch das herrliche Rheinthal. — Das Wetter war jetzt schön geworden, wir saßen zusammen in einem Coupé erster Klasse, und Frau Julia plauderte ganz harmlos und fast in ausgelassener Laune mit mir. Ich kann sagen, dies war die glücklichste Strecke der Reise, und ich fühlte mehr und mehr meine Besorgnisse schwinden. — Abends waren wir in Chur, in dieser wohlhäbigen, sauberen Stadt in dem weiten Thale, das von drei Seiten von majestätischen Gebirgen eingeschlossen ist. Wir logirten in dem reizenden Gasthaus zur Stadt Bern. — Rings Balkone vor jedem Fenster, schon wie in Italien, nur daß sie von Holz sind. Wir bekamen zwei reizende Zimmer. Mein Vorschlag war, den Thee oben zu nehmen, aber Frau Julia bestand darauf, in den großen Saal an die Abendtafel zu gehen. Was wollt' ich machen? So setzten wir uns mitten zwischen die fremden Leute hinein, von hundert Augen beobachtet, von hundert Zeugen bekrittelt; ich kann sagen, ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, Frau Julia aber war von einer Sicherheit und Unbefangenheit, die mich in Erstaunen setzte. Dabei sprach sie ziemlich reichlich den vorgesetzten Speisen zu und verschmähte auch nicht ein Glas Wein. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fand plötzlich den Muth, sie um ein Plauderstündchen nach dem Souper zu bitten. Warum denn nicht? sagte Frau Julia. Wir haben ja einen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0122"/> fortwerfen oder zurücklassen; ich aber versteckte sie heimlich in meiner Hutschachtel. Nach ein Paar Stunden ging die Reise weiter durch das herrliche Rheinthal. — Das Wetter war jetzt schön geworden, wir saßen zusammen in einem Coupé erster Klasse, und Frau Julia plauderte ganz harmlos und fast in ausgelassener Laune mit mir. Ich kann sagen, dies war die glücklichste Strecke der Reise, und ich fühlte mehr und mehr meine Besorgnisse schwinden. — Abends waren wir in Chur, in dieser wohlhäbigen, sauberen Stadt in dem weiten Thale, das von drei Seiten von majestätischen Gebirgen eingeschlossen ist. Wir logirten in dem reizenden Gasthaus zur Stadt Bern. — Rings Balkone vor jedem Fenster, schon wie in Italien, nur daß sie von Holz sind. Wir bekamen zwei reizende Zimmer. Mein Vorschlag war, den Thee oben zu nehmen, aber Frau Julia bestand darauf, in den großen Saal an die Abendtafel zu gehen. Was wollt' ich machen? So setzten wir uns mitten zwischen die fremden Leute hinein, von hundert Augen beobachtet, von hundert Zeugen bekrittelt; ich kann sagen, ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, Frau Julia aber war von einer Sicherheit und Unbefangenheit, die mich in Erstaunen setzte. Dabei sprach sie ziemlich reichlich den vorgesetzten Speisen zu und verschmähte auch nicht ein Glas Wein. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fand plötzlich den Muth, sie um ein Plauderstündchen nach dem Souper zu bitten. Warum denn nicht? sagte Frau Julia. Wir haben ja einen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0122]
fortwerfen oder zurücklassen; ich aber versteckte sie heimlich in meiner Hutschachtel. Nach ein Paar Stunden ging die Reise weiter durch das herrliche Rheinthal. — Das Wetter war jetzt schön geworden, wir saßen zusammen in einem Coupé erster Klasse, und Frau Julia plauderte ganz harmlos und fast in ausgelassener Laune mit mir. Ich kann sagen, dies war die glücklichste Strecke der Reise, und ich fühlte mehr und mehr meine Besorgnisse schwinden. — Abends waren wir in Chur, in dieser wohlhäbigen, sauberen Stadt in dem weiten Thale, das von drei Seiten von majestätischen Gebirgen eingeschlossen ist. Wir logirten in dem reizenden Gasthaus zur Stadt Bern. — Rings Balkone vor jedem Fenster, schon wie in Italien, nur daß sie von Holz sind. Wir bekamen zwei reizende Zimmer. Mein Vorschlag war, den Thee oben zu nehmen, aber Frau Julia bestand darauf, in den großen Saal an die Abendtafel zu gehen. Was wollt' ich machen? So setzten wir uns mitten zwischen die fremden Leute hinein, von hundert Augen beobachtet, von hundert Zeugen bekrittelt; ich kann sagen, ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, Frau Julia aber war von einer Sicherheit und Unbefangenheit, die mich in Erstaunen setzte. Dabei sprach sie ziemlich reichlich den vorgesetzten Speisen zu und verschmähte auch nicht ein Glas Wein. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich fand plötzlich den Muth, sie um ein Plauderstündchen nach dem Souper zu bitten. Warum denn nicht? sagte Frau Julia. Wir haben ja einen
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/122>, abgerufen am 17.02.2025. |