Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht wahr, Sie haben a la Romeo über den Balkon steigen wollen? Ich versichere Sie auf Ehre, Frau Julia stellte zuerst die Frage, ob dieses möglich sei. Und Sie sind wirklich hinübergeklettert? Schweigen Sie doch, Frau Conrectorin, es hat mir ja nichts geholfen! Weil Frau Julia gleich in ihr Zimmer geflohen ist und die Thür hinter sich abgeschlossen hat. Aber woher wissen Sie? -- und der Vetter Isidor saß mit offenem Munde. Woher -- weil ich Sie kenne, Vetterchen, und weil ich meinen losen Schalk Julia auch kenne. Nun, und was wurde daraus, Vetterchen? Sie haben einige Minuten gepocht und gefleht, dann haben Sie denselben Weg wieder zurückklettern müssen. Vetter Isidor nickte mit einer unbeschreiblichen Armensündermiene. Mit Lebensgefahr, Frau Conrectorin, mit Lebensgefahr. Die Frau brach jetzt in ein wahrhaft convulsivisches Gelächter aus, das um so stärker wurde, je mehr sie es zurückdrängen wollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, nachdem sie den Erstickungsanfall überwunden hatte. Vetter Isidor hatte beleidigt nach seinem Hute gegriffen und wollte sich entfernen, aber die Frau Conrectorin nahm ihn am Arme und führte ihn an seinen Platz zurück. nicht wahr, Sie haben à la Romeo über den Balkon steigen wollen? Ich versichere Sie auf Ehre, Frau Julia stellte zuerst die Frage, ob dieses möglich sei. Und Sie sind wirklich hinübergeklettert? Schweigen Sie doch, Frau Conrectorin, es hat mir ja nichts geholfen! Weil Frau Julia gleich in ihr Zimmer geflohen ist und die Thür hinter sich abgeschlossen hat. Aber woher wissen Sie? — und der Vetter Isidor saß mit offenem Munde. Woher — weil ich Sie kenne, Vetterchen, und weil ich meinen losen Schalk Julia auch kenne. Nun, und was wurde daraus, Vetterchen? Sie haben einige Minuten gepocht und gefleht, dann haben Sie denselben Weg wieder zurückklettern müssen. Vetter Isidor nickte mit einer unbeschreiblichen Armensündermiene. Mit Lebensgefahr, Frau Conrectorin, mit Lebensgefahr. Die Frau brach jetzt in ein wahrhaft convulsivisches Gelächter aus, das um so stärker wurde, je mehr sie es zurückdrängen wollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, nachdem sie den Erstickungsanfall überwunden hatte. Vetter Isidor hatte beleidigt nach seinem Hute gegriffen und wollte sich entfernen, aber die Frau Conrectorin nahm ihn am Arme und führte ihn an seinen Platz zurück. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0124"/> nicht wahr, Sie haben à la Romeo über den Balkon steigen wollen?</p><lb/> <p>Ich versichere Sie auf Ehre, Frau Julia stellte zuerst die Frage, ob dieses möglich sei.</p><lb/> <p>Und Sie sind wirklich hinübergeklettert?</p><lb/> <p>Schweigen Sie doch, Frau Conrectorin, es hat mir ja nichts geholfen!</p><lb/> <p>Weil Frau Julia gleich in ihr Zimmer geflohen ist und die Thür hinter sich abgeschlossen hat.</p><lb/> <p>Aber woher wissen Sie? — und der Vetter Isidor saß mit offenem Munde.</p><lb/> <p>Woher — weil ich Sie kenne, Vetterchen, und weil ich meinen losen Schalk Julia auch kenne. Nun, und was wurde daraus, Vetterchen? Sie haben einige Minuten gepocht und gefleht, dann haben Sie denselben Weg wieder zurückklettern müssen.</p><lb/> <p>Vetter Isidor nickte mit einer unbeschreiblichen Armensündermiene. Mit Lebensgefahr, Frau Conrectorin, mit Lebensgefahr.</p><lb/> <p>Die Frau brach jetzt in ein wahrhaft convulsivisches Gelächter aus, das um so stärker wurde, je mehr sie es zurückdrängen wollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, nachdem sie den Erstickungsanfall überwunden hatte.</p><lb/> <p>Vetter Isidor hatte beleidigt nach seinem Hute gegriffen und wollte sich entfernen, aber die Frau Conrectorin nahm ihn am Arme und führte ihn an seinen Platz zurück.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0124]
nicht wahr, Sie haben à la Romeo über den Balkon steigen wollen?
Ich versichere Sie auf Ehre, Frau Julia stellte zuerst die Frage, ob dieses möglich sei.
Und Sie sind wirklich hinübergeklettert?
Schweigen Sie doch, Frau Conrectorin, es hat mir ja nichts geholfen!
Weil Frau Julia gleich in ihr Zimmer geflohen ist und die Thür hinter sich abgeschlossen hat.
Aber woher wissen Sie? — und der Vetter Isidor saß mit offenem Munde.
Woher — weil ich Sie kenne, Vetterchen, und weil ich meinen losen Schalk Julia auch kenne. Nun, und was wurde daraus, Vetterchen? Sie haben einige Minuten gepocht und gefleht, dann haben Sie denselben Weg wieder zurückklettern müssen.
Vetter Isidor nickte mit einer unbeschreiblichen Armensündermiene. Mit Lebensgefahr, Frau Conrectorin, mit Lebensgefahr.
Die Frau brach jetzt in ein wahrhaft convulsivisches Gelächter aus, das um so stärker wurde, je mehr sie es zurückdrängen wollte. Die Thränen strömten ihr aus den Augen, nachdem sie den Erstickungsanfall überwunden hatte.
Vetter Isidor hatte beleidigt nach seinem Hute gegriffen und wollte sich entfernen, aber die Frau Conrectorin nahm ihn am Arme und führte ihn an seinen Platz zurück.
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/124>, abgerufen am 16.07.2024. |