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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

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und deren Gleichgewicht.
haben, das Gleichgewicht zu zerrütten im Stande
sey.

Allerdings ist iedoch die Beantwortung der Frage:
ob eine Verletzung des Gleichgewichts würklich vorhan-
den sey? in einzelnen Fällen mit mancherley Bedenklich-
keiten verknüpft, weil es an einem unpartheiischen Rich-
ter fehlt, welcher den Ausspruch thun könte. Dem
mit Vergrösserungsabsichten befangenem Staate kan die
Beurteilung eben so wenig überlassen werden, als einem
oder dem andern einzelnen Volke, das vielleicht blos
seines Privatnutzens wegen die Macht seines Nachbars
für zu gefährlich ansieht. Es muß hier ohnstreitig auf
das Urteil und den Ausspruch sämtlicher übrigen Nazio-
nen oder, wo möglich, eines dritten dabey am wenigsten
interessirten vermittelnden Volks ankommen f]. Da
man heutzutage die Stärke und Schwäche der Völker in
Ansehung ihrer Einkünfte, Kriegsheere und übrigen
Verfassung ziemlich genau anzugeben weiß, so dürfte
das iedesmalige Machtverhältnis minder schwer zu
bestimmen seyn.

a] Der Verfasser der Erinnerungen [S. 131. u. f.] hat sich
viele Mühe gegeben deshalb den Kahlischen Begriff vom
Gleichgewichte zu verwerfen. Aber immer nimt er nur
auf das Verhältnis eines einzelnen Staats zum andern
einzelnen Rücksicht; woraus natürlich folgt, daß ein
Gleichgewicht unter ihnen nicht füglich Statt finde; daß
es möglich sey, daß ein Staat zum Schaden des andern
seine Kräfte gar zu sehr vermehre und solche Vermehrung
doch die Staatswage im mindesten nicht verrücke etc. Je-
doch sieht er gar wohl ein, worauf es ankomme, indem
er sagt: "In der That aber ist die Balance der Völker
entweder eine leere Erfindung müssiger Köpfe, deren An-
wendung in den öffentlichen Kriegs- und Friedensgeschäf-
ten weder Nutzen schaft, noch Statt findet, oder ihr

und deren Gleichgewicht.
haben, das Gleichgewicht zu zerruͤtten im Stande
ſey.

Allerdings iſt iedoch die Beantwortung der Frage:
ob eine Verletzung des Gleichgewichts wuͤrklich vorhan-
den ſey? in einzelnen Faͤllen mit mancherley Bedenklich-
keiten verknuͤpft, weil es an einem unpartheiiſchen Rich-
ter fehlt, welcher den Ausſpruch thun koͤnte. Dem
mit Vergroͤſſerungsabſichten befangenem Staate kan die
Beurteilung eben ſo wenig uͤberlaſſen werden, als einem
oder dem andern einzelnen Volke, das vielleicht blos
ſeines Privatnutzens wegen die Macht ſeines Nachbars
fuͤr zu gefaͤhrlich anſieht. Es muß hier ohnſtreitig auf
das Urteil und den Ausſpruch ſaͤmtlicher uͤbrigen Nazio-
nen oder, wo moͤglich, eines dritten dabey am wenigſten
intereſſirten vermittelnden Volks ankommen f]. Da
man heutzutage die Staͤrke und Schwaͤche der Voͤlker in
Anſehung ihrer Einkuͤnfte, Kriegsheere und uͤbrigen
Verfaſſung ziemlich genau anzugeben weiß, ſo duͤrfte
das iedesmalige Machtverhaͤltnis minder ſchwer zu
beſtimmen ſeyn.

a] Der Verfaſſer der Erinnerungen [S. 131. u. f.] hat ſich
viele Muͤhe gegeben deshalb den Kahliſchen Begriff vom
Gleichgewichte zu verwerfen. Aber immer nimt er nur
auf das Verhaͤltnis eines einzelnen Staats zum andern
einzelnen Ruͤckſicht; woraus natuͤrlich folgt, daß ein
Gleichgewicht unter ihnen nicht fuͤglich Statt finde; daß
es moͤglich ſey, daß ein Staat zum Schaden des andern
ſeine Kraͤfte gar zu ſehr vermehre und ſolche Vermehrung
doch die Staatswage im mindeſten nicht verruͤcke ꝛc. Je-
doch ſieht er gar wohl ein, worauf es ankomme, indem
er ſagt: “In der That aber iſt die Balance der Voͤlker
entweder eine leere Erfindung muͤſſiger Koͤpfe, deren An-
wendung in den oͤffentlichen Kriegs- und Friedensgeſchaͤf-
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[331/0357] und deren Gleichgewicht. haben, das Gleichgewicht zu zerruͤtten im Stande ſey. Allerdings iſt iedoch die Beantwortung der Frage: ob eine Verletzung des Gleichgewichts wuͤrklich vorhan- den ſey? in einzelnen Faͤllen mit mancherley Bedenklich- keiten verknuͤpft, weil es an einem unpartheiiſchen Rich- ter fehlt, welcher den Ausſpruch thun koͤnte. Dem mit Vergroͤſſerungsabſichten befangenem Staate kan die Beurteilung eben ſo wenig uͤberlaſſen werden, als einem oder dem andern einzelnen Volke, das vielleicht blos ſeines Privatnutzens wegen die Macht ſeines Nachbars fuͤr zu gefaͤhrlich anſieht. Es muß hier ohnſtreitig auf das Urteil und den Ausſpruch ſaͤmtlicher uͤbrigen Nazio- nen oder, wo moͤglich, eines dritten dabey am wenigſten intereſſirten vermittelnden Volks ankommen f]. Da man heutzutage die Staͤrke und Schwaͤche der Voͤlker in Anſehung ihrer Einkuͤnfte, Kriegsheere und uͤbrigen Verfaſſung ziemlich genau anzugeben weiß, ſo duͤrfte das iedesmalige Machtverhaͤltnis minder ſchwer zu beſtimmen ſeyn. a] Der Verfaſſer der Erinnerungen [S. 131. u. f.] hat ſich viele Muͤhe gegeben deshalb den Kahliſchen Begriff vom Gleichgewichte zu verwerfen. Aber immer nimt er nur auf das Verhaͤltnis eines einzelnen Staats zum andern einzelnen Ruͤckſicht; woraus natuͤrlich folgt, daß ein Gleichgewicht unter ihnen nicht fuͤglich Statt finde; daß es moͤglich ſey, daß ein Staat zum Schaden des andern ſeine Kraͤfte gar zu ſehr vermehre und ſolche Vermehrung doch die Staatswage im mindeſten nicht verruͤcke ꝛc. Je- doch ſieht er gar wohl ein, worauf es ankomme, indem er ſagt: “In der That aber iſt die Balance der Voͤlker entweder eine leere Erfindung muͤſſiger Koͤpfe, deren An- wendung in den oͤffentlichen Kriegs- und Friedensgeſchaͤf- ten weder Nutzen ſchaft, noch Statt findet, oder ihr weſent-

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Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/357>, abgerufen am 23.11.2024.